Er zerbeißt gerne T-Shirts und spuckt die feuchten Knäuel wieder aus. Ein Tick, den ihm seine Mutter lieber lässt. Denn die Sache mit den T-Shirts habe einen anderen, schlimmen Tick abgelöst: Ihr Sohn hatte früher den Zwang, seinen Kopf auf den Boden zu schlagen und sich selbst zu beißen. Gut, wenn das nicht wieder kommt.

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Jonathan Wagner ist schwer mehrfachbehindert, autoaggressiv, verschmust, in guten Stunden sehr charmant, und manchmal für seine Mitmenschen – sagen wir: anstrengend. Er benötigt eine Betreuung rund um die Uhr. Doch Wohnplätze sind rar, die Wartelisten lang, und die Kraft der Eltern ist endlich.

„Jonathan bringt ja auch Qualität in die Welt.“ Corinna Wagner über ihren 22-jährigen Sohn.
„Jonathan bringt ja auch Qualität in die Welt.“ Corinna Wagner über ihren 22-jährigen Sohn. | Bild: Hilser, Stefan

Der junge Mann, von dem hier die Rede ist, ist 22 Jahre alt – und das ist sein Problem. Denn seine Schulzeit endet und er wird zu alt für eine Betreuung in einem Kinder- und Jugendheim. Seine Mutter, Architektin Corinna Wagner aus Überlingen, berichtet, dass ihr Sohn spätestens im nächsten Jahr einen neuen Wohnplatz finden müsse.

Offener Brief an die Landratsämter

Jonathan Wagner gilt als LIBW-Fall. Die Abkürzung steht für „Längerfristig intensiv betreutes Wohnen“. Die Betroffenen brauchen verlässliche, intensive und meist multidisziplinär angelegte Unterstützung, Tag und Nacht. Sie hätten ein Recht darauf, doch solche Plätze seien praktisch nicht zu finden, stellte Corinna Wagner nach bislang erfolgloser Suche fest. Sie schrieb einen offenen Brief an die zuständigen Behörden, an die Landratsämter in Ravensburg und Friedrichshafen.

„Meist werden wir schon bei der ersten Suche auf jahrelange Wartelisten hingewiesen oder gleich abgewiesen.“ Corinna Wagner
„Meist werden wir schon bei der ersten Suche auf jahrelange Wartelisten hingewiesen oder gleich abgewiesen.“ Corinna Wagner | Bild: Hilser, Stefan

Es gehe ihr nicht nur um sich, um ihren Sohn Jonathan, und um ihre 13-jährige, ebenfalls schwer mehrfach behinderte Tochter, für die sich eines Tages vielleicht ähnliche Fragen stellen. Nein, ihr gehe es auch um die vielen Menschen, die unter der selben Situation leiden. Es sind 70 Betroffene, beziehungsweise Betreuer, die ihren Brief unterschrieben haben.

„Die Situation hat sich in den vergangenen Jahren sogar verschärft.“
Robert Schwarz, Landratsamt

„Die Schwierigkeit, freie LIBW-Plätze im Bodenseekreis zu finden, ist bekannt“, bestätigte Robert Schwarz, Pressesprecher des Landratsamtes in Friedrichshafen. „Die Situation hat sich in den vergangenen Jahren sogar verschärft.“ Laut Sozialgesetzbuch müssen die Stadt- und Landkreise in Baden-Württemberg als Leistungsträger die Plätze vorhalten.

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Im Bodenseekreise werde dies mit 100 Plätzen formal erfüllt. Allerdings, so Robert Schwarz, würden rund 80 Prozent der LIBW-Plätze von Menschen aus anderen Stadt- und Landkreisen in Anspruch genommen, die bei sich in der Nähe kein Angebot finden. Es gebe regional eine ungleiche Verteilung, was daran liege, dass die entsprechenden Angebote überwiegend in Fachzentren wie dem der Stiftung Liebenau bereitgestellt würden.

„Es gibt formell keinen Belegungsvorrang für Menschen aus dem Landkreis.“
Robert Schwarz, Landratsamt

Ein weiterer Ausbau der Plätze gewährleiste noch keine Verbesserung der hiesigen Versorgung, so Robert Schwarz. „Denn es gibt formell keinen Belegungsvorrang für Menschen aus dem Landkreis.“

Die Sozialplanung des Bodenseekreises nehme den Fall Jonathan Wagner aber nun zum Anlass, auf die Behinderteneinrichtungen zuzugehen und gemeinsam die Möglichkeiten zu sondieren, „dass neu geschaffene LIBW-Plätze vorrangig für die Versorgung Bedürftiger aus der Region zur Verfügung stehen“.

Das gleiche Bild im Landkreis Ravensburg

75 LIBW-Plätze stehen im Landkreis Ravensburg zur Verfügung. Für die eigene Bevölkerung sei dies „bedarfsgerecht“, wie das Landratsamt Ravensburg mitteilte. Allerdings seien 37 der 75 Plätze von Personen aus anderen Stadt- und Landkreisen im Bundesgebiet belegt. Man wolle deshalb dafür Sorge tragen, so Pressesprecherin Julia Moosherr, dass „vorrangig“ Menschen aus dem eigenen Landkreis ein Platz zugewiesen wird.

„Das Thema lässt mich nicht los.“
Volker Mayer-Lay, Bundestagsabgeordneter

Der Überlinger Bundestagsabgeordnete Volker Mayer-Lay (CDU) ist in den Fall von Jonathan Wagner eingeweiht. Er erklärt, dass das Bundesteilhabegesetz eigentlich fordere, dass jeder Mensch wählen kann, wo er lebt, „dass er sich sozusagen einen Platz aussuchen kann, an dem es ihm gut geht“. Aufgrund des Mangels an solchen Plätzen sei dies faktisch aber nicht gewährleistet.

Die Stiftung Liebenau habe ihm bestätigt, „dass der von Frau Wagner geschilderte Sachverhalt eine viel größere Anzahl an Menschen betrifft, als bisher in einer breiteren Öffentlichkeit bekannt ist“. Hier sei die Politik gefordert, „wenn die Einrichtungen den weiteren Ausbau nicht gestemmt oder finanziert bekommen“. Mayer-Lay: „Das Thema lässt mich nicht los, bei meinem regelmäßigen Austausch mit Sozialpolitikern kommt es auch das nächste Mal wieder zur Sprache.“

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