Es dürfte wohl die letzte Gedenkveranstaltung mit Zeitzeugen in diesem Rahmen gewesen sein – insofern lag eine ganz besondere Atmosphäre im Veranstaltungssaal unter der Kirche.

Begonnen hatte das Ganze mit einem ökumenischen Gottesdienst mit dem Jugendchor Lottstetten unter dem Motto „Sehnsucht nach Frieden und Heimat“ – heute so aktuell wie vor 80 Jahren. Im Anschluss gab Konrad Schlude vom Jestetter Bildungswerk einen Einblick in die Geschehnisse rund um das Kriegsende. Am 15. Mai mussten die Bewohner des Jestetter Zipfels ihre Heimat verlassen und in eine ungewisse Zukunft aufbrechen.

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Nur wenige Tage nach der deutschen Kapitulation herrschte Verzweiflung. Viele Frauen waren auf sich gestellt, da die Männer gefallen oder in Kriegsgefangenschaft geraten waren. Mit Kuhgespannen oder auch nur mit dem Handwagen machten sich die Menschen auf den Weg. Der Trek, der sich nach Westen aufmachte, war mehr als fünf Kilometer lang.

Warum es zu dieser Vertreibung kam, war viele Jahre lang ungeklärt. Erst die Öffnung französischer Militärakten vor wenigen Jahren offenbarte einen ganz banalen Grund. Es ging weder um einen Gebietstausch noch eine Bestrafungsaktion, sondern lediglich um Grenzsicherung. Der Jestetter Zipfel hat eine Grenze von 57 Kilometern Länge zur Schweiz, nach der Räumung des Gebiets war die Grenze auf nur einen Kilometer geschrumpft. Aus diesem Grund konnten die Menschen auch recht bald wieder zurück in die Heimat. Bis zum Jahresende waren alle Vertriebenen nach Hause gekommen.

Mit Spannung verfolgte der Saal den kurzen Vortrag des Ühlinger Ortsvorstehers Klaus Müller, der aus den Aufzeichnungen des damaligen Bürgermeisters vorlas. Die Jestetter waren überwiegend in Ühlingen untergekommen und die dortige Gemeindeverwaltung an der Belastungsgrenze.

Klaus Müller (Ortsvorsteher Ühlingen), Tobias Gantert (Bürgermeister Ühlingen-Birkendorf), Andreas Morasch (Bürgermeister Lottstetten) ...
Klaus Müller (Ortsvorsteher Ühlingen), Tobias Gantert (Bürgermeister Ühlingen-Birkendorf), Andreas Morasch (Bürgermeister Lottstetten) und der Jestetter Bürgermeister Dominic Böhler (von links) bei der Veranstaltung. | Bild: Ralf Göhrig

Denn zu den zu versorgenden französischen Soldaten kamen jetzt noch 800 Jestetter hinzu, was die Einwohnerzahl innerhalb weniger Tage verdoppelte. Was es bedeutet, wenn plötzlich fremde Menschen im eigenen Haus einquartiert werden, mag sich jeder selbst ausmalen.

Die Bewohner des Jestetter Zipfels wurden in den Schwarzwald vertrieben.
Die Bewohner des Jestetter Zipfels wurden in den Schwarzwald vertrieben. | Bild: Ralf Göhrig

Mucksmäuschenstill wurde es, als dann die Zeitzeugen deutlich emotional berührt von ihren Erlebnissen erzählten. Selbst die heute 90-Jährigen waren damals noch Kinder und erlebten diese Zeit aus einer wohl gefilterten Perspektive.

Elisabeth Zanker, geborene Dorer, Gertrud Meier, geborene Schäfer, Werner Fricker, Lore Link, geborene Straub und Gisela Abend, geborene ...
Elisabeth Zanker, geborene Dorer, Gertrud Meier, geborene Schäfer, Werner Fricker, Lore Link, geborene Straub und Gisela Abend, geborene Danner (von links) erinnern sich an den Sommer 1945.

„Wir lernten, wie man am besten Fische in einem Bach fangen kann“, erinnert sich Edgar Maier, seinerzeit acht Jahre alt. Der Verlust der Heimat war für die Menschen damals, trotz aller persönlichen Sorgen und materieller Nöte, das am meisten schmerzhafte Gefühl. Umso größer war die Freude über die Rückkehr, wie einhellig berichtet wurde.

Elisabeth Zanker, geborene Dorer (stehend) erzählt von ihren Erlebnissen vor 80 Jahren.
Elisabeth Zanker, geborene Dorer (stehend) erzählt von ihren Erlebnissen vor 80 Jahren. | Bild: Ralf Göhrig

In Jestetten fanden die Angekommenen ein verwahrlostes Zuhause vor. „Das ganze Haus war voller Spinnweben und Staub“, erinnerte sich Elisabeth Zanker. Nach einer Vegetationsperiode auch kaum verwunderlich – aber zu Zerstörungen war es nicht gekommen. Die verbliebenen Schweizer und Anwohner der schweizerischen Nachbargemeinden hatten die Felder und auch die verbliebenen Haustiere ordentlich versorgt.

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Aus Dank an die Rückkehr legte die Heimkehrer ein Gelübde ab, jährlich eine Wallfahrt nach Einsiedeln zu unternehmen (in diesem Jahr am 27. September). Selbst die evangelischen Einwohner nehmen seither an dieser Wallfahrt teil.

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