Stefan Ruppaner (65) leitete fast 20 Jahre die Alemannenschule in Wutöschingen (ASW). Die einstige Grund- und Hauptschule hat er in dieser Zeit zu einer Gemeinschaftsschule mit gymnasialer Oberstufe umgebaut. Inzwischen zählt die ASW zu den führenden Gemeinschaftsschulen auf nationaler Ebene und bekommt viel Aufmerksamkeit. Auch Ruppaners Buch landete sofort auf der Bestellerliste.

Herr Ruppaner, was hat Sie dazu inspiriert, dieses Buch zu schreiben, wer ist die Zielgruppe und an wen richtet sich Ihre Botschaft?

Von allein wäre ich nicht auf diese Idee gekommen. Aber eine Literaturagentin aus München, Christine Proske, war auf die Alemannenschule aufmerksam geworden. Sie kontaktierte mich und fragte, ob ich nicht ein Buch über meine Schulentwicklungs-Geschichte schreiben wolle. Zuerst sagte ich entschieden „Nein“, ich konnte mir das nicht vorstellen.

Aber die Agentin ließ nicht locker. Sie war der Meinung, dass unsere Geschichte unbedingt in eine breitere Öffentlichkeit gehört. Und sie erklärte mir auch, dass ich das Buch ja nicht allein schreiben müsste. Ich hatte dann das große Glück, dass Frau Proske mich mit ihrer Autorin Anke Willers in Kontakt brachte – die ist Redakteurin beim Verlag Gruner und Jahr in Hamburg und hat schon mehrere Bücher geschrieben.

Gemeinsam mit ihr war es dann eine Freude, das Projekt zu machen. Ich war selbst erstaunt, wie viel es zu berichten gab. Als Zielgruppe hatte ich immer alle im Kopf, die sich für eine bessere Bildung interessieren: Lehrkräfte, Eltern, Kinder – und natürlich Schulleitungen. Aber auch die Politik.

Sie haben der ASW ein bahnbrechendes Lernkonzept verpasst. Es ist nicht weniger als eine Revolution des bisherigen Bildungskonzepts in Baden-Württemberg. Wie wollen Sie Politiker, Schulamt und Lehrerschaft davon überzeugen, dass dieser Weg der Richtige ist?

Es ist mir seit Jahren zwar gelungen, Politiker, Ämter und viele Lehrkräfte für das Konzept zu begeistern, es folgen seitens der Politik und der Verwaltung aber keine Taten. Frau Ministerin Theresa Schopper hat uns mehrfach an der Alemannenschule besucht und hält die Hand schützend über uns.

Für die Sekundarstufe 2 der Alemannenschule wurde ein neues Schulhaus gebaut.
Für die Sekundarstufe 2 der Alemannenschule wurde ein neues Schulhaus gebaut. | Bild: Sandra Holzarth

Anscheinend schafft auch sie es aber nicht, die starren, hierarchischen Strukturen der Schulverwaltung für die Pädagogik der Zukunft zu öffnen. Also bleibt uns nur übrig, größeren Teilen der Lehrerschaft, der Eltern und der Kinder zu zeigen und vorzuleben, dass Schule anders geht. Die Interessen der Kinder und Lernenden müssen dabei unbedingt in den Mittelpunkt gestellt werden.

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Was macht Sie so sicher, dass Ihr Weg der einzig Richtige ist, das Bildungssystem zu entstauben?

Unser Weg ist nicht der einzig Richtige. Doch der jetzige Weg mit Klassen und Unterricht, den wir seit über 100 Jahren beschreiten, ist eindeutig der falsche. Der Weg war mal richtig. Aber unsere Gesellschaft hat sich verändert. KI wird diese Situation noch weiter verschärfen.

„Wir brauchen eine Transformation der Schulen.“
Stefan Ruppaner, ehemaliger Schulleiter

Jetzt brauchen wir eine Transformation der Schulen vom Ort des Lehrens zum Ort des Lernens. Es gibt viele Wege, um diese Transformation zu gestalten. Die Alemannenschule hat bereits bewiesen, dass die dort entwickelte Schmetterlingspädagogik ein sehr erfolgreicher Weg aus der Schulkrise ist. Das zeigen auch die hervorragenden Leistungen. Es gibt sicher noch viele andere Wege, die aber erst noch erfolgreich beschritten werden müssen.

Sie beschreiben im Buch Frontalunterricht als Hemmnis fürs Lernen. Können Sie anschauliche Beispiele nennen, wie die Lehrmethoden an der Alemannenschule die Lernresultate der Schüler verbessert haben?

Es ist schwer, diese Frage hier kurz zu beantworten. Dazu muss man eigentlich mein Buch „Das könnte Schule machen“ lesen. Folgende Sachverhalte sind allerdings klar:

Die Lernhäuser auf zwei Ebenen bieten den Schülern helle und komfortable Arbeitsplätze.
Die Lernhäuser auf zwei Ebenen bieten den Schülern helle und komfortable Arbeitsplätze. | Bild: Holzwarth, Sandra

Unterricht nimmt den Kindern die Zeit zum Lernen; Unterricht nimmt den Lehrkräften die Zeit für die Lernbegleitung; Unterricht nimmt vielen Kindern die Freude am Lernen. Und nicht zuletzt behindert Unterricht auch die Selbstwirksamkeit, ein wichtiges Gefühl, was letztendlich auch die Grundlage für erfülltes Leben ist.

Deshalb sind Sie für die Abschaffung von Unterricht im klassischen Sinn, Sie halten ihn sogar für Zeitverschwendung. Wie meinen Sie das konkret?

Man muss sich doch nur mal fragen, wie es kommt, dass ganz viele Abc-Schützen stolz und lernbereit in der ersten Klasse kommen – und in der dritten Klasse haben sie schon keine Lust mehr. Das liegt am Unterricht!

Viel Platz zum selbstständigen Lernen gibt es in der Alemannenschule.
Viel Platz zum selbstständigen Lernen gibt es in der Alemannenschule. | Bild: Holzwarth, Sandra

Das Hauptproblem dabei ist, dass alle Kinder zur gleichen Zeit das Gleiche lernen müssen – die Kinder sind aber nicht alle gleich. Und das ist ja auch gar nicht wünschenswert für unsere heutige Gesellschaft.

Lernen funktioniert viel besser, wenn die Kinder in einem größeren Rahmen die Zeit bekommen, die sie für ein Thema brauchen. Wenn ihre individuellen Interessen berücksichtigt werden und sie beim eigenständigen Lernen begleitet werden. Genau das passiert im klassischen Unterricht aber nicht.

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Was entgegnen Sie Kritikern, die Unterricht zwar reformieren, aber nicht revolutionieren möchten und skeptisch auf die Alemannenschule blicken?

Jeder hat das Recht, einen eigenen Weg zur Behebung der Probleme zu finden. Wenn die Lehrenden und Lernenden glücklich mit dem System Unterricht sind, ist ja alles perfekt. Ich glaube allerdings, dass Reformen nichts mehr bringen.

Nehmen wir zum Beispiel die Digitalisierung an den Schulen: Es reicht doch nicht, einfach ein paar Laptops anzuschaffen, um moderner zu werden. Man muss das einbetten in ein ganz neues Lernkonzept. Und in ein Leitbild. Mein Eindruck ist im Übrigen auch: Unsere Kritiker werden weniger und unsere Fans immer mehr.

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Wir waren zweimal Preisträger beim renommierten Deutschen Schulpreis. Die Anmeldezahlen für die Schule steigen unaufhörlich. Und wir haben Besucher aus aller Welt, und die Besuchstermine sind für Jahre ausgebucht. Gerade stehen wir auch vor der Gründung einer Schmetterlings-Akademie, die Lehrkräfte für die schulischen Aufgaben der Zukunft ausbilden soll.

Kinder tragen sehr viel Eigenverantwortung für das Lernen an der ASW. Gibt es Schüler, die damit schlicht überfordert sind und die Schule wieder verlassen?

Natürlich gibt es Kinder, die mit unserem Konzept nicht klarkommen und unsere Schule wieder verlassen. Das passiert bei allen Schulen. Es gibt allerdings viel mehr Kinder, die unbedingt auf die Alemannenschule wollen.

Ich kenne Familien, die nur wegen der ASW von Berlin, Leipzig, Hannover, Zagreb, Meran usw. nach Wutöschingen gezogen sind. In meiner Einliegerwohnung wohnt eine 16-Jährige aus Walsrode in der Lüneburger Heide, die allein hierhergekommen ist, nur um die Oberstufe an der ASW zu besuchen. Das ist kein Einzelfall.

Es gibt Meinungen von Pädagogen, dass die guten Voraussetzungen, die es an der Alemannenschule in puncto Infrastruktur und Ausstattung gibt, nicht überall geschaffen werden können. Wie kann es an anderen Schulen gelingen, eine modernere Schulumgebung wie in Wutöschingen zu schaffen?

Diese Voraussetzungen können überall geschaffen werden. Wir haben wirklich auch ganz klein und mit sehr preiswerten Lösungen angefangen. Langfristig ist das System der Alemannenschule ohnehin weitaus kostengünstiger als die traditionelle Schule. Wir brauchen beispielsweise kein zerstörungssicheres Mobiliar und müssen keine Bücher kaufen. Die Kosten für Lehr- und Lernmittel sind drastisch gesunken.

Selbstbestimmtes Lernen steht bei der Alemannenschule im Mittelpunkt.
Selbstbestimmtes Lernen steht bei der Alemannenschule im Mittelpunkt. | Bild: Holzwarth, Sandra

Trotz hoher Abschreibungen für die Neubauten schreibt die Schule schwarze Zahlen. Hindernis bei der Umsetzung des Konzepts ist meist nicht fehlendes Geld, sondern die fehlende Haltung. Und ja, auch fehlender Mut und fehlendes Vertrauen in die Kraft der Veränderung.

Was sind die wichtigsten Fähigkeiten, die Schüler aus ihrer Sicht heute erlernen müssen, um für die Zukunft gerüstet zu sein.

Ich bin sicher, dass Kinder schon heute und erst recht in Zukunft ganz andere Dinge können müssen als noch vor 20 oder gar 50 Jahren: Teamwork, digitales Know-how, Veränderungskompetenz, Umgang mit Medien, die Fähigkeit, Fake und Fakten zu unterscheiden. 21st Century skills (Fähigkeiten, um im 21. Jahrhundert erfolgreich zu bestehen, Anm. d. Redaktion) heißt das Schlagwort. Das lernen sie nicht mit dem jetzigen System.

Welche Rolle spielt dabei Künstliche Intelligenz (KI) an der ASW?

KI wird die Welt des Lernens verändern. Für die Alemannenschule ist KI keine besondere Herausforderung, da das Lernen bereits auf Selbstorganisation ausgerichtet ist. Für Schulen, die immer noch auf Unterricht setzen, wird die Situation sehr schwierig werden. KI ist nicht mehr wegzudenken oder zu verbieten.

Kann das freie Lernen, wie an der ASW praktiziert, die Antwort auf die schlechten Ergebnisse bei Pisa-Studien sein – und wenn ja, warum?

Ja, absolut. Die Alemannenschule zeigt bei Prüfungen und Vergleichsarbeiten weit überdurchschnittliche Leistungen. Bereits der erste Abiturjahrgang 2022 war fast eine halbe Note besser als der Landesdurchschnitt in Baden-Württemberg.

Sie sind seit einigen Monaten in Pension. Wie wird sich die inzwischen „Ruppaner-freie“ Alemannenschule nach Ihrer Meinung in Zukunft entwickeln?

Die ASW wird weiter gedeihen und sich im Sinne der Schmetterlingspädagogik weiterentwickeln. Und wenn alles nach Plan läuft, wird die Schule sogar ein Standort für Lehrerbildung werden, den Lehrkräfte aus Deutschland, Österreich, Italien und der Schweiz als Ort der Inspiration und Fortbildung nutzen können.