Jürgen Scharf

Es war im September 1945, noch im Jahr der Beendigung des Zweiten Weltkrieges, als das neu gegründete Stuttgarter Kammerorchester sein erstes Konzert in der Landeshauptstadt gab. Unter welchen Schwierigkeiten das vonstatten ging, ist heute kaum noch vorstellbar. „Der Vereinshaussaal war die einzige für Konzerte geeignete Räumlichkeit in den Ruinenfeldern der Stadt, ein Saal ohne Illusion, vom Hinterhof her zu betreten... Die Menschen kamen zu Fuß und in den wenigen überfüllten Straßenbahnen, deren Fenster mit Brettern vernagelt waren“, so erinnert sich ein Zeitzeuge in einer Festschrift. Es regnete durch die Decke und die weiteren Auftritte erfolgten im Austausch mit Bezugsscheinen, Lebensmittelmarken oder Heizmaterial. Die Menschen kamen aber trotzdem in Scharen, denn der Hunger auch nach geistiger Nahrung war groß.

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Wie sich die Bilder gleichen: Einen Monat später, im Oktober, wurden die „Säckinger Kammermusik-Abende“ (SKA) gegründet – unter ähnlichen schwierigen Umständen. Auch in Säckingen herrschten damals Hunger und Elend, die Verkehrswege und Verkehrsmittel waren zerrüttet. Neben der physischen war die geistig-seelische Not nicht geringer. So war es eine umso verdienstvollere und kühne Tat, dass Privatleute es wagten, fünf Monate nach Kriegsende dem materiellen Chaos etwas Kultur und musikalischen Balsam entgegenzustellen.

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Der 1908 in Freiburg geborene und 1985 in Bad Säckingen verstorbene Fritz B. Metzger, langjähriger Leiter der Kammermusik-Abende, Musiklehrer am Scheffel-Gymnasium und Musikkritiker, hat seine Erinnerungen an die Nachkriegszeit aufgeschrieben: „Man kann sich kaum noch vorstellen, unter welchen Schwierigkeiten jene ersten Veranstaltungen der Jahre 1945/46 durchgeführt werden mussten“, erinnert er sich in einem Rückblick an die Anfangszeit. „Für die deutsche Bevölkerung bestand eine abendliche Ausgangssperre, die es nötig machte, für die Konzertbesucher beim Gouvernement Militaire einen Passierschein zu erwirken.“ Hotelplätze waren kaum verfügbar, so dass die Künstler privat untergebracht werden mussten. Auch im Hinblick auf die katastrophale Ernährungslage – eine Tagesration von zwei Scheiben Brot – konnte man das schier Unmögliche nur mit gegenseitiger Hilfestellung schaffen.

Fritz B. Metzger begründete die Ära der Säckinger Kammermusik-Abende.
Fritz B. Metzger begründete die Ära der Säckinger Kammermusik-Abende. | Bild: Jürgen Scharf

Und wieder eine Parallele zur Gründung des Stuttgarter Kammerorchesters: Metzger erinnert an die anstrengenden Fahrten, welche die Musiker in den wenigen und schlechten Zügen zurückzulegen hatten, bei mit Brettern (!) vernagelten Fenstern und ohne Beleuchtung und Heizung. Auch die Säckinger Zuhörer wurden gebeten, etwas Holz oder Briketts mitzubringen, „damit der Konzertraum mittels eines eisernen Ofens, dessen möglichst langes Rohr durchs Fenster geführt wurde, beheizt werden konnte.“

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Trotz dieser zeitbedingten Probleme ließ sich Erna Krastel, musikbegeisterte Gattin eines Bankdirektors, nicht entmutigen, fast allmonatlich Konzerte zu veranstalten. Sie legte damit den Grundstein für die Ausrichtung der Reihe auf Kammermusik und Klavierrecitals. Als Ersten lud sie den Pianisten Karl August Schirmer, einen Schüler von Edwin Fischer, ein. Im Saal des ehemaligen Hotels Schützen fand dieser denkwürdige Klavierabend am 16. Oktober 1945 statt, der vor genau 75 Jahren die bis heute währende traditionsreiche Reihe der „Säckinger Kammermusik-Abende“ einleitete.

Illustre Künstler

Noch im Anfangsjahr kam ein weltberühmter Sänger nach Säckingen: Der in St. Blasien ansässig gewordene, damals 57-jährige Bariton Heinrich Schlusnus, ein sehr populärer Sänger, der seine Stimme mit müheloser und strahlender Höhe bis in seine letzten Konzerte bewahren konnte, gab einen enthusiastisch aufgenommenen Liederabend, dem zehn Monate später noch ein zweiter folgte. Die Liste der aufgetretenen Künstler weist auch andere illustre Namen auf. Neben namhaften Ensembles wie dem renommierten, mehrfach hier gastierenden Melos-Quartett sind es vor allem Pianisten, die das Feld beherrschten.

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Dass der schon erwähnte Edwin Fischer, ein berühmter Bach- und Beethoven-Spieler, der zu den angesehensten und bekanntesten Pianisten des 20. Jahrhunderts gehörte, in Säckingen auftrat, ist bemerkenswert. Elly Ney, die „Grande Dame“ des Pianos und „Hohepriesterin Beethovens“, die bis ins hohe Alter Konzertreisen mit eigenem Chauffeur unternahm, gastierte sogar vier Mal in der Trompeterstadt. Alfred Cortot, mit dessen vollendeter musikalischer Kultur und aristokratischem Spiel sich kein französischer Pianist seiner Zeit vergleichen konnte, hatte ebenso einen beachtenswerten Auftritt wie Eduard Erdmann, der als Komponist, Pianist und Schubert-Spezialist bekannt war. In seinem Standardwerk „Große Pianisten in unserer Zeit“ schreibt Kritikerpapst Joachim Kaiser: „Pianisten wie Eduard Erdmann oder Edwin Fischer oder Elly Ney, denen eine hohe berechtigte Verehrung entgegengebracht wird... haben kultiviert, was man eine antivirtuose, dramatische Innerlichkeit nennen könnte.“ Und solche Koryphäen waren einmal in Bad Säckingen zu hören!

Stuttgarter Kammerorchester

Immerhin sechs Mal reiste das Münchner Kammerorchester unter Hans Stadlmair an den Hochrhein. Nicht zu toppen ist aber die Verbundenheit des Stuttgarter Kammerorchesters mit der Klassikreihe. Denn die Streicher unter Karl Münchinger konzertierten sage und schreibe 21 Mal in der Scheffelstadt. Beide Institutionen verbindet also eine typische Nachkriegs-Erfolgsgeschichte.

Das markante Signet der Kammermusik-Abende wird bis heute beibehalten.
Das markante Signet der Kammermusik-Abende wird bis heute beibehalten. | Bild: Jürgen Scharf

1986, nach dem Tod Metzgers, übernahm sein Nachfolger als Musiklehrer am Scheffel-Gymnasium, Hansjörg Friedrich, für 20 Jahre die künstlerische Leitung der SKA. Der in Rickenbach lebende Musikliebhaber, der sich 1991 auf der Kursaalbühne neben dem Starpianisten Cyprien Katsaris an den Flügel setzte und mit diesem vierhändig eine Zugabe auf die Tasten legte, baute auf der Tradition seines Vorgängers auf und erweiterte den internationalen Künstlerkreis.

20 Jahre lang leitete der Gymnasiallehrer Hansjörg Friedrich die Säckinger Kammermusik-Abende, hier vor dem Kursaal, dem Konzertpodium ...
20 Jahre lang leitete der Gymnasiallehrer Hansjörg Friedrich die Säckinger Kammermusik-Abende, hier vor dem Kursaal, dem Konzertpodium der Hochrheinstadt. | Bild: Jürgen Scharf

Auf seine Initiative entstand der Kontakt zum „Concours Géza Anda“ in Zürich, einem renommierten Klavierwettbewerb, dessen Preisträger bis heute regelmäßig auf dem Bad Säckinger Konzertpodium zu erleben sind. Friedrich hob das Fähnchen der Klaviermusik hoch und lud Pianistinnen wie Heidrun Holtmann oder das berühmte Klavierduo Yaara Tal und Andreas Groethuysen ein, das mehrfach für Sternstunden vierhändigen Klavierspiels sorgte.

Zyklus wird vielseitiger

Wie die beiden ehrenamtlichen Organisatoren Metzger und Friedrich, die sich gut verstanden und als Kollegen ein freundschaftliches Verhältnis pflegten, kann auch Kulturreferentin Christine Stanzel, die seit 2008 für die künstlerische Ausrichtung verantwortlich zeichnet, eine spezielle musikalische Ausbildung vorweisen; eines ihrer Studienfächer war Musikwissenschaft.

Kulturreferentin Christine Stanzel hat die Klassikreihe auch für moderne Musik und ein junges Publikum geöffnet.
Kulturreferentin Christine Stanzel hat die Klassikreihe auch für moderne Musik und ein junges Publikum geöffnet. | Bild: Picasa

Unter ihrer Leitung ist der Zyklus vielseitiger geworden, breiter im Spektrum, mit interessanten Themenschwerpunkten. Stanzel hat der Musik des 20. und 21. Jahrhundert die Tür geöffnet und Klassikstars wie die Klarinettistin Sharon Kam, die Geigerin Isabelle Faust, den Hammerflügelspieler Andreas Staier, die Pianistin Claire Huangci oder die Trompeter Reinhold Friedrich und Gabor Boldoczki hergeholt.

Und sie hat die Reihe für junges Publikum attraktiv gemacht durch Erzählkonzerte (mit dem Sprecher Juri Tetzlaff), Workshops für Musikschüler und angesagte Ensembles wie das Atos Trio oder das Vision String Quartet, das Klassik mit Pop und Jazz mixt. Die Säckinger Kammermusik-Abende sind mit der Zeit gegangen.