Herr Neun, gestatten Sie eine provokante Einstiegsfrage: Sie haben Corona einiges zu verdanken, oder?

Warum sollte ich?

Weil dadurch ein vernachlässigtes Thema von enormer Relevanz ins Bewusstsein rückt: Die Arbeit macht die Menschen zunehmend krank und das zeigt sich exemplarisch an der Situation in der Pflege.

Das stimmt allerdings – aber dafür hätte es Corona wirklich nicht gebraucht. Ich bin seit 30 Jahren im Gesundheitswesen unterwegs, das sich in einem permanenten Umstrukturierungsprozess befindet. Betroffen davon sind vor allem die Kliniken. Eine der Kernfragen aus psychologischer Sicht lautet: Wie bekommt man es hin, dass das Klinikpersonal seinen Job trotz der Belastung und der Veränderungen gerne macht.

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Ließe sich das Problem nicht einfach dadurch lösen, dass mehr Personal ausgebildet und eingestellt wird? Dann noch eine anständige Bezahlung und der Kittel wäre geflickt, oder?

Das ist nicht falsch, weil mit dem Ansatz einer Veränderung des Miteinanders das grundsätzliche Problem des Personalmangels nicht gelöst werden kann. Auf der anderen Seite wird eine schlechte und krank machende Organisation nicht dadurch besser, dass sie auf eine größere Zahl von Menschen angewandt wird.

Soll das heißen: Mist bleibt Mist und wird nicht besser dadurch, dass der Misthaufen vergrößert wird?

Wenn Sie so wollen, ja. Wenn der psychologische Faktor nicht berücksichtigt wird, dann erhöht sich am Ende lediglich die Burnout-Quote. Viele Unternehmen in der Industrie haben das erkannt. Sie verändern den Führungsstil so, dass der einzelne Mitarbeiter aber auch die Teams oder Abteilungen die Fähigkeit zum Umgang mit Stress lernen. Man nennt das Resilienz.

Matthäus formuliert das anders: Was hilft es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele?

Ein wahrhaft biblisches Wort. Ich will es dennoch anders formulieren: Die Menschen müssen im Arbeitsleben so stabil sein, dass sie ohne Burnout durchkommen.

Und in den Krankenhäusern sind Ihrer Meinung nach die Voraussetzungen schlecht?

Sehr schlecht sogar. Unsere Kliniken sind Konfliktburgen.

Was sind die Ursachen?

Das liegt zum Teil daran, dass es mit der Ärzteschaft und dem Pflegepersonal eine nach wie vor stark ausgeprägte Zweiklassengesellschaft gibt. Daneben ist noch das Management, was zusätzliches Konfliktpotenzial birgt. Die Verhaltensformen sind meist über Jahrzehnte kultiviert worden und derart strukturell verankert, dass darüber nicht gesprochen wird...

....und durch die Stärkung der Resilienz kann das verändert werden?

Ja. Im Kern geht es um die Befähigung der Mitarbeiter, nein zu sagen und gleichzeitig den Mut zu eigenen Lösungen aufzubringen. Ein Schlüssel dazu ist eine bestärkende Führung, die nicht auf Befehl und Gehorsam setzt. In den Kliniken gibt es dabei manchmal das Problem, dass wegen des Ermüdungsgrades allein die Botschaft schon nicht mehr vermittelbar ist.

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Zwei Einwände: Niemand wird heutzutage noch ernsthaft die Methode von Befehl und Gehorsam befürworten, dennoch hat sie den Vorteil der Klarheit, weil jeder weiß, was bei der Arbeit verlangt wird. Zweitens: Mit der Resilienz steigt die Eigenverantwortung – aber ist das nicht eine andere Form der Ausbeutung? Und die führt dann wiederum zu Stress?

Richtig ist, dass man die Entwicklung der Resilienz-Kompetenz nicht überstrapazieren darf. Es geht ja auch nur um die Bewältigung extremer Belastungen wie sie jetzt durch Corona an den Kliniken in exemplarischer Weise auftreten. Und auch an dem zweiten Einwand ist etwas dran. Wie gesagt: Auf Dauer wird man mehr Personal einstellen müssen, die Folgen des Fachkräftemangels lassen sich über die Resilienz nicht ausgleichen.

Eine grundsätzliche Frage: Was ist der Grund für die Schwierigkeiten der bestärkenden Führung? Man weiß doch, dass die Mitarbeiter oder Kollegen in aller Regel nicht auf den Kopf gefallen sind?

Das liegt daran, dass wir uns psychologisch gesehen leider auf dem Niveau von Neandertalern bewegen. Deutlich wird das immer bei steigendem Leidensdruck, was dann allerdings auch die Chance für Veränderungen und Auswege bietet. Von außen reicht dabei unter Umständen ein Vortrag. Beim innerbetrieblichen Miteinander empfehle ich, dass die Leute mehr miteinander reden.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Da ist zum Beispiel die Erstellung des Dienstplans. Eine der Mitarbeiterinnen ist alleinerziehend und muss um 17 Uhr ihr Kind abholen. Diese Situation sollte das Team kennen und bei Bedarf muss man sich darüber aussprechen. Sonst entwickelt die Mutter eventuell Schuldgefühle gegenüber den Kolleginnen, bei denen umgekehrt Neid entstehen kann. Das erzeugt zusätzlichen Stress, und um das zu vermeiden, bedarf es der Mediationskompetenz der Teamleitung. Das ist nur ein kleines Beispiel, aber in der Summe und angesichts der ohnehin hohen Anforderungen kann das die Menschen krank machen.

Klingt jetzt aber doch sehr einfach...

...und ist es auch. Resilienz ist lernbar. Das Beispiel zeigt im Übrigen auch, das es nicht nur um die Stärkung der individuellen Persönlichkeit geht. Resilienz meint zugleich die Therapie der gesamten Einheit und im besten Fall entwickelt sich eine lernende Organisation. Wichtig ist dabei das Bewusstsein, dass es keinen Heilsbringer gibt. Der Therapeut hält grundsätzlich immer nur den Spiegel, der bei der Veränderung hilfreich sein kann.

Letzte Frage: Glauben Sie, dass die Resilienz angesichts des politischen Ziels eine Chance hat? Es ist seit Jahren bekannt, dass die angeblichen Überkapazitäten im Klinikbereich im Zuge des Wettbewerbs abgebaut werden sollen.

Da macht es sich die Politik sehr einfach, aber es handelt sich um ein anderes Thema. Ich halte das Gesundheitswesen für eine Hoheitsaufgabe, die sich nicht über den Markt regulieren lässt. Aber die Schwierigkeit das Richtige zu tun, ist ja nicht nur eine Herausforderung in den Kliniken oder Pflegeeinrichtung, sondern auch in der Politik. Wenn ich bedenke, dass unsere Studien vom Bundesgesundheitsministerium an oberster Spitze gewürdigt wurden und dann dennoch in der Schublade verschwunden sind – also das macht mich wirklich fertig.

Herr Neun, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.

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