Das Urteil ist schnell gesprochen: Zwei Jahre und acht Monate Haft. Ohne Bewährung. Das ist viel für einen 24-Jährigen, der gerade versprochen hat, sein Leben zu ändern. Dem Urteil voraus gehen knapp dreieinhalb Stunden Verhandlung.
Der Tatvorwurf
Es ist eine Nacht im Mai 2019. Pikanterweise der Tag, an dem die Bewährungszeit des vorbestraften Angeklagten abgelaufen wäre. Der Beschuldigte feiert in dieser Nacht in der Diskothek Grey, mit dabei ein Freund und eine Bekannte. Es fließt Alkohol, bei ihm werden später 2,6 Promille im Blut gemessen. Nach dem Discobesuch kommt es auf dem Parkplatz vor dem Grey zum Konflikt. Ein Mann habe seine Bekannte angemacht, sagt der Angeklagte. Zunächst tritt die Bekannte selbst nach dem Mann, dann greift der 24-Jährige ein.
Schläge, Tritte – der Angeklagte geht brutal vor
Er versetzt dem Geschädigten einen Faustschlag, tritt ihn zu Boden, so die Anklage der Staatsanwaltschaft. Dann liegt der Mann am Boden und der Angeklagte tritt erneut zu – ins Gesicht des Mannes. Dieser verliert das Bewusstsein und erleidet Verletzungen am Kopf, Hämatome, eine Zahnfraktur. Er muss stationär ins Krankenhaus. Eine Überwachungskamera hat das Geschehen dokumentiert, der Angeklagte leugnet es nicht.

Die Zeugen können sich kaum erinnern
Das 23-jährige Opfer leidet bis heute an den Folgen des Angriffs. Was in der Nacht vor dem Angriff passiert ist, dazu kann er dem Gericht nur wenig mitteilen. „Ich habe zu viel getrunken, Wodka Bull, Bier, ich war k.o.“. Er könne sich an nichts erinnern, auch nicht daran, dass er ein Mädchen angemacht habe. Seine Erinnerung setzt wieder ein, als er im Krankenhaus aufwacht. Klare Aussagen macht der junge Mann zu seinem Befinden: Er habe eine Narbe im Gesicht und bis heute starke Kopfschmerzen, vor allem nachts. Bis zu dreimal täglich nehme er starke Schmerzmittel.
Warum es Streit gibt, weiß keiner mehr
Ähnlich geht es der zweiten Zeugin, der Bekannten des Angeklagten. Auch sie erinnert sich an wenig. Sie weiß noch, dass sie sich mit dem Geschädigten gestritten habe, dass er dann am Boden lag. Was er ihr getan habe, weiß sie nicht mehr. Sie habe zu viel getrunken. Der Angeklagte hat dieselben Gedächtnislücken. Der Geschädigte habe seine Bekannte belästigt, betont er immer wieder. Worum es genau ging, wisse er nicht. „Dann habe ich überreagiert, ich stand stark unter Drogen„, versucht er, Richterin Heike Willenberg sein Verhalten zu erklären.
Der Angeklagte entschuldigt sich
Der 24-Jährige drückt sich gewandt aus, er äußert sich ausführlich, die Stimme leise, ein wenig demütig. Später entschuldigt er sich bei seinem Opfer: Er habe, was passiert ist, nicht gewollt. Und es tue ihm leid. Er möchte eine Therapie machen, drogenfrei leben.
Neben dem Vorfall am Grey wird eine zweite Tat verhandelt. In Singen soll er einem Mann, dem er Geld schuldete, einen Faustschlag ins Gesicht versetzt haben. Er habe ihm auch gedroht, was der Angeklagte allerdings leugnet. Die Gewalt gegenüber dem Gläubiger räumt er ein.
Der Mann mit den zwei Gesichtern
Viel Zeit nimmt sich Richterin Willenberg für die Ursachenforschung: Was stimmt nicht mit dem jungen Mann, der so friedfertig wirkt? Es zieht sich durch die Plädoyers wie ein roter Faden. „Sie haben zwei Gesichter“, sagt die Richterin bei der Urteilsverkündung, „sie sind der nette junge Mann – aber Sie ticken auch aus und zwar grundlos.“ Die Staatsanwältin spricht von einer tückischen Täuschung. Ein anständiger Mann sitze hier vor einem, so könnte man meinen. Die Gewalt gegen das Opfer vor der Disco hätte ganz anders ausgehen können, warnt sie ihn, der Mann könnte tot sein.
Ursachenforschung: Was in der Kindheit passiert
Die Biografie des Angeklagten gibt Hinweise, aber keine Erklärung. Probleme gab es in den ersten Lebensjahren zur Genüge. Mit zwei Jahren gibt ihn seine Mutter in eine Pflegefamilie, dort bleibt er, bis er vier ist. Da sein Vater ein Umgangsrecht erstreitet und die Familie dies nicht akzeptiert, wechselt er in eine zweite Pflegefamilie. Es folgen vier weitere, in einer wird der damals Jugendliche geschlagen. Dann beginnt er, Regeln zu übertreten: Erpressungen von Mitschülern, Gewalt, Diebstähle. 2012, da ist der Angeklagte knapp 17, kommt er zum ersten Mal in Haft.
Die Liste der Vorstrafen scheint endlos: Körperverletzung, Beleidigung, räuberische Erpressung. Seit er erwachsen ist, gibt es keinen Zeitabschnitt, den er nicht in Haft oder auf Bewährung verbracht hat.
In der Haft fasst der Angeklagte gute Vorsätze
Im Jugendarrest holt er den Hauptschulabschluss nach. Er beginnt eine Lehre als Schreiner, wird 2015 aus der Haft entlassen und kommt bei seinem Vater unter. Er zieht zu seiner Freundin, trennt sich, zieht zu einem Freund, dann in eine eigene Wohnung. Die Lehre, die er in Singen fortsetzen wollte, bricht er ab. Er schlägt sich mit Jobs durch, nimmt Drogen.
Es beginnt mit einem Joint, darauf folgen Spice, das er in der Haft konsumiert, später Ecstasy, dann Koks. Kurz bevor er wieder in Haft kommt, ist der Konsum extrem hoch. Ein Gramm Koks habe er täglich konsumiert, sagt der Angeklagte. Zu Beginn seiner Haftzeit ist er abgemagert, wiegt nur noch 64 Kilo bei 1,87 Meter Körpergröße. Wie er sich fühle, wenn er kokse, will die Richterin wissen. „Wie ein Gorilla“, antwortet der junge Mann, „wenn ein Konflikt auftritt, dreht man durch“. Ohne das Koksen wäre sein Ausrasten so nicht denkbar gewesen, glaubt er. Das glaubt Richterin Willenberg nur eingeschränkt. Die Drogen wirkten zweifellos verstärkend, Gewalt habe er aber schon vor seiner Abhängigkeit angewandt.
Das Urteil: hart, aber begründbar, so das Gericht
Zwei Jahre und acht Monate ohne Bewährung – das gilt als hartes Urteil, auch im Hinblick auf das relativ geringe Alter des Angeklagten. Zwei Jahre und sechs Monate gibt es für die Tat vor dem Grey, zehn Monate für die Körperverletzung gegenüber dem Schuldner, beide Urteile werden zusammen gefasst. Amtsrichterin Willenberg bleibt eindringlich gegenüber dem 24-Jährigen: „Sie haben ein psychisches Problem, ein Problem mit Gewalt. Sollten Sie es nicht lösen, werden Sie Dauergast bei uns sein.“
Der Mann mit den zwei Gesichtern wird sich für eine Persönlichkeit entscheiden müssen. „Ich sage es mal knallhart: Ich muss auch die Öffentlichkeit vor Ihnen schützen“, fügt Willenberg hinzu und fordert den Angeklagten und seinen Anwalt auf, die Entscheidung, ob sie das Urteil akzeptieren oder Berufung einlegen, mit Bedacht zu treffen.