Vom Standort der Weltmarktführer zum neuen Stadtteil: Wo vor Kurzem noch Sortiermaschinen für Briefe entstanden, werden in wenigen Jahren Hunderte, gar mehr als tausend Menschen leben. Das einstige Siemensareal an der Bücklestraße steht vor großer Veränderung und damit ein weiteres Mal der westliche Teil Petershausens. Veränderung – nicht, ohne die Bürger mitzunehmen, sagt das Unternehmen i+R Dietrich Wohnbau aus Lindau. Und nicht ohne ein gutes Miteinander mit der Stadt zu suchen. Je größer die Akzeptanz für ein Projekt, desto reibungsfreier die Umsetzung; je besser der hinterlassene Eindruck, desto besser die Voraussetzung für weitere Vorhaben in einer Stadt.

Das Projekt ist eine Herausforderung für die Baufirma

Schließlich geht es auch um den Ruf eines Traditionsunternehmens. Das Unternehmen mit österreichischen Wurzeln ist seit Jahrzehnten am Markt und will sich einen Schiffbruch mit einem Projekt nicht leisten. Aus diesem Grund schaut sich i+R ganz genau an, welche Projekte es in die Hand nehmen will, ob Aufwand und Ertrag wirtschaftlich in vertretbarem und lukrativem Verhältnis stehen. Es geht um Geld, viel Geld. 28,6 Millionen Euro hat i+R für den Kauf des Siemensareals in die Hand genommen – und hat dafür vom einstigem Eigentümer ein 70 000 Quadratmeter großes Grundstück samt Bestandsgebäuden erhalten. Aber auch mit Altlasten, mit der noch gültigen Bindung an Gewerbe und Auflagen der Stadt. Eine Mammutaufgabe für die Firma i+R Dietrich Wohnbau aus Lindau, die zur i+R-Gruppe aus dem vorarlbergischen Lauterach gehört. Eine Herausforderung für die Projektentwickler des Unternehmens, Andreas Deuring und Maria Wechsel.

Sie mussten vor dem Kauf qualitativ und quantitativ bewerten, ob sich der Erwerb lohnt, "es wird beurteilt: Ist der Standort gut, ist er geeignet?", erklärt Deuring. Zu seiner und Wechsels Aufgabe zählt nun zu erarbeiten, was auf dem Gelände künftig möglich ist und was nicht.

Dabei haben sie allerdings große Unterstützung durch die Stadtverwaltung, die wiederum größtes Interesse an einer für Petershausen und Konstanz bestmögliche Überplanung des Areals hat. Sie hätte es in der Hand gehabt, den Stadtteil ganz nach ihrer eigenen Vorstellung zu kreieren. Weil die Verhandlungsführer im Rathaus die Gebotsschlacht nicht mehr mitgehen wollten, stiegen sie aus. Der von Gutachtern errechnete Verkehrswert lag bei 24 Millionen Euro. Wobei die Frage berechtigt gewesen wäre, inwieweit Stadtverwaltung und Wobak neben dem noch größeren Baugebiet Nördlich Hafner mit bis zu 2500 Wohnungen zusätzlich das Siemensareal hätten stemmen können. Ressourcen auch in kommunalen Ämtern und Firmen sind endlich.

Im Gemeinderat gibt es auch Zweifler

So mancher Stadtrat scheint im Nachhinein dennoch nicht glücklich mit den Entscheidungen des Gemeinderats, beim Siemens-Gelände oder auch beim Vincetius-Areal nicht zugeschlagen zu haben. Dorothee Jacobs-Krahnen (FGL) ließ kürzlich zumindest durchblicken, dass da vielleicht städtebauliche Chancen vertan wurden. Fest steht: i+R legte eine ordentliche Schippe drauf und wird nun darauf achten, dass sich das gelohnt haben wird. Es gebe kein "Kochbuch" zu Entwicklung eines gerade so großen Industrie- in ein Wohn- und Gewerbegelände, sagt Deuring. Die Projektentwickler könnten lediglich auf Ähnlichkeiten zu anderen Bauvorhaben zurückgreifen. Etwa auf ein Vorhaben in Lochau, Vorarlberg. Allerdings ist es erheblich kleiner als das Siemensareal: "lediglich" 29.000 Quadratmeter. Herausforderung in Konstanz ist, eine funktionierende Symbiose aus Alt und Neu zu schaffen.

Denkmalgeschützte Gebäude sollen erhalten bleiben - aber für welche Nutzung?

Gesetzt ist der Erhalt denkmalgeschützter Gebäude, etwa der Shedhalle. 5000 Quadratmeter Fläche bietet sie. Ihre Besonderheit ist die wellenförmige Satteldachform mit nach Norden ausgerichteten Glasfronten. Das bietet ein zur Bedienung von Maschinen konstantes, schatten- und blendfreies Licht. Die Halle ist zwischen 1955 und 1960 als eines der ersten Bauwerke entstanden – als die 1948 gegründete Firma Pintsch Geräte für die Beleuchtung von Eisenbahnwaggons fertigte, 1958 dann aber von Telefunken aufgekauft wurde. Später ging das Industrieviertel an AEG, Eletrocom und zuletzt an Siemens. Siemens ist mit seiner Konstanzer Sparte nach einem massiven Abbau an die Byk-Gulden-Straße gezogen.

Was also tun mit einer 5000 Quadratmeter großen Halle, die in einem Wohngebiet eine Funktion erhalten soll? Der Einzug von Gewerbe, produzierende und lärmträchtige Industrie ausgeschlossen. Optimal wäre in dem Viertel, sagen die Projektentwickler, eine Kombination aus Arbeiten und Wohnen. Auch die ehemaligen Siemens-Verwaltungsgebäude an der Bücklestraße sollen nach einer Sanierung für Gewerbe und Dienstleistungen zur Verfügung stehen. "Wir hatten erste Gespräche mit möglichen langfristigen Miet- und Kaufinteressenten", sagt Maria Wechsel. Weil die letztendliche Nutzung in den stehen bleibenden Gebäuden noch nicht konkret sei, blieben die Interessenten vorerst Interessenten.

Für eine vorübergehende Vermietung, bis i+R das Gelände bebaut, würden die gut von der Bücklestraße aus zugänglichen Bauten umgebaut. Anders sieht es bei Hallen aus, die inmitten des Viertels liegen. "Das Areal sollte nicht öffentlich zugänglich sein, weil es darauf nicht sicher ist. Da ist es schwierig, mittendrin eine Lagerfläche zu vermieten."

Auf dem Areal sollen vor allem Wohnungen entstehen

Das Hauptaugenmerk bei der Überplanung des Areals liegt auf dem Wohnungsbau. Hunderte Wohnungen sollen entstehen, in Vergangenheit ist die Zahl von etwa 450 genannt worden. Das Unternehmen i+R will sich darauf nicht festlegen. Es komme auf den Zuschnitt der Wohnungen an. Sie liegen, das gesamte Gelände betrachtet, eher zur Bahnlinie orientiert, während zur Bücklestraße hin bestehende Gebäude das Bild dominieren werden. Wichtig ist i+R der Freiraum. Der ist es aber auch der Stadt.

Auch wenn sie das Siemensareal nicht gekauft hat und umgekehrt: auch wenn ein privates Unternehmen hier bauen möchte, die Planungshoheit bleibt bei der Stadt Konstanz. Sie hat formuliert, worauf es ihr bei der Entwicklung des Stadtviertels ankommt. Festgehalten in einer mit i+R geschlossenen Absichtserklärung. "Dort sind die Anforderungen der Stadt Konstanz eingeflossen. Hierzu gehören neben der Umsetzung des Handlungsprogramms Wohnen unter anderem ein ausreichendes Angebot an öffentlichen Grünflächen sowie die Einbindung in das städtische Fuß- und Radwegenetz", erläutert die Stadtverwaltung.

Mehr noch: i+R hat sich die Ausarbeitung und Umsetzung eines Bürgerbeteiligungs- und Informationskonzepts zugesagt, die Mischung aus Wohnen, Gewerbe, Dienstleistung und Kinderbetreuung, eine soziale Mischung im Quartier nach der Vorgabe im Handlungsprogramm Wohnen, die Integration von Baugruppenprojekten, die Vernetzung in die benachbarten Quartiere, ein attraktives Mobilitätskonzept und die Einbindung regenerativer Energien zur Auflage gemacht. Das Viertel soll autofrei werden mit eben viel Grün- und Freiraum.

Wohnungen auch für Einkommensschwache

Zwei Drittel Wohnbau inklusive geförderter Einheiten für einkommensschwächere Bürger, ein Drittel Gewerbe lautet der Schlüssel bei der zu überbauenden Fläche. Bis zu einem Viertel des Grundstücks soll unbebaut bleiben. Der von der Stadt gewünschte Freiraum im Rahmenplan sei sehr groß und habe das Unternehmen anfänglich vor eine Herausforderung gestellt. Generell gilt: Je mehr Freiraum, desto weniger zu veräußernder Wohnraum.

Andreas Deuring begriff die Erfüllung der Voraussetzung eher als Chance. Immerhin entstehe ein neues Stadtviertel, da komme es besonders darauf an, was zwischen den Gebäuden passiere. Und Alexander Stuchly, Geschäftsführer von i+R Dietrich Wohnbau, erklärte hierzu in Vergangenheit: "Außenanlagen liegen uns am Herzen, wir sind es gewohnt, damit zu planen." Das soll übersetzt wohl heißen: Das Familienunternehmen hat genau kalkuliert und sieht die Wirtschaftlichkeit des Gesamtprojekts nicht in Gefahr.

Eine eigene Arbeitsgruppe im Bauamt

Unterstützung erhält i+R durch das Bauamt. Dort ist für das Großprojekt Siemensareal eine Arbeitsgruppe eingerichtet worden. „Wir sind in regelmäßigen Abstimmungen mit der Stadtverwaltung“, sagt Deuring, die Zusammenarbeit laufe konstruktiv und in guter Atmosphäre. Das Presseamt im Rathaus erklärt: "Die Stadtverwaltung und i+R Dietrich Wohnbau stehen in engem Kontakt, es finden regelmäßig gemeinsame Abstimmungsgespräche statt."

Deuring und Maria Wechsel sind nicht zugleich die entwerfenden Architekten. Das sollen andere übernehmen. "Wir entwickeln Rahmenbedingungen für einen städtebaulichen Wettbewerb", bis zu acht eingeladenen Architektur-, Freiraum- und Verkehrsplanungsbüros sollen ausarbeiten, wie das Viertel bebaut werden könnte. Der Siegerentwurf werde dann weiter verfolgt. Um den Auslobungstext formulieren zu können sind auch noch Untersuchungen notwendig. "Wir haben diverse Gutachter eingeschaltet zur Prüfung von Verkehr und Lärmschutz. Ergebnisse liegen uns noch nicht vor", schildert Maria Wechsel. Zudem werde mithilfe eines Ingenieurbüros die beim Kauf erhaltene Voruntersuchung auf Altlasten vertieft und mit dem Landratsamt abgestimmt.

Wie aufwendig die Bodensanierung wird, hängt von der späteren Nutzung der Fläche zusammen. Steht der Sieger des Wettbewerbs fest, könnte etwa ein Jahr später der Bebauungsplan – er gibt vier bis fünf Geschosse vor – und der Flächennutzungsplan geändert werden und die Baueingabe erfolgen.

Baubeginn? So schnell wie möglich!

Bleibt die Frage, bis wann es losgehen kann. Konstanz braucht dringend neuen Wohnraum. Andreas Deuring legt sich auf kein Datum fest, wann auf dem Siemensareal Spatenstich sein könnte. Eine von i+R für die Pressearbeit engagierte Agentur geht vom Jahr 2020 aus. Für die Projektentwickler zählt vielmehr ein gutes Ergebnis, was auf den 70 000 Quadratmetern passieren soll. Damit die späteren Bewohner, das Umfeld, die Stadt größt möglichen Nutzen haben. Damit wohl aber auch i+R einen guten Eindruck hinterlässt. Deshalb bleibt Deuring bei der Frage nach dem Spatenstich lieber unverbindlich: So schnell wie möglich.

Blicke ins leere Siemens-Areal

Viel leerer Raum in einer ehemaligen Siemens-Halle.
Viel leerer Raum in einer ehemaligen Siemens-Halle.
Hier lagern schon länger keine Unterlagen mehr.
Hier lagern schon länger keine Unterlagen mehr.

 

Auch das findet sich in einem der Siemensgebäude wieder: Büros, deren Modernisierung nicht lange zurückliegt und die noch gut nutzbar ...
Auch das findet sich in einem der Siemensgebäude wieder: Büros, deren Modernisierung nicht lange zurückliegt und die noch gut nutzbar sind. Allerdings gibt es auch wenig schmuckvolle Bereiche in den Gebäuden.

 

Die ehemalige Kantine, als ob sie noch in Betrieb wäre. Nahe dem Gebäude gibt es eine Brücke über die Bahngleise. Die Konstruktion ist ...
Die ehemalige Kantine, als ob sie noch in Betrieb wäre. Nahe dem Gebäude gibt es eine Brücke über die Bahngleise. Die Konstruktion ist laut Projektentwickler Andreas Deuring aufgrund ihres Zustands nicht mehr nutzbar. In Überlegung ist, eine Unterführung zu bauen.

 

Auch dieses Gebäude wird wohl neuen Wohnungen weichen.
Auch dieses Gebäude wird wohl neuen Wohnungen weichen.

 

Bürgerinformation und weitere Fläche

  • Forum: Um sich ein Bild vom 70 000 Quadratmeter großen Gelände und den teils denkmalgeschützten Bestandsgebäuden zu machen, ist die Bevölkerung am Freitag, 10. November, ab 13.30 Uhr zum Quartiersrundgang eingeladen. Den Besichtigungswunsch äußerten laut dem Bauunternehmen i+R Dietrich Wohnbau Anrainer bei einem Informationsabend im Juni. Treffpunkt ist der Haupteingang des ehemaligen Siemens-Areals in der Bücklestraße. In 30-Minuten-Intervallen werden bis 15.30 Uhr Führungen angeboten. Vor Ort informieren die Projektentwickler über den Planungsstand und Referenzprojekte. Der 10. November dient dem Kennenlernen. Zu einem Bürgerforum lädt i+R am 13. Dezember um 19 Uhr in den Wolkensteinsaal des Kulturzentrums am Münster (Wessenbergstraße 43) ein.Hier sollen die Nutzung, die Grünflache und der Verkehr thematisiert werden.

  • Weitere Fläche privat verkauft: Während die Bebauung des Siemens-Areals bereits in Planung ist, sorgte der Verkauf des Nachbargrundstücks in der Bücklestraße (im Bild ganz oben rot markiert) für eine Grundsatzdebatte im Gemeinderat, ob die Stadt zu viele Chancen vertut, Grundstücke selbst zu kaufen und zu entwickeln. 4987 Quadratmeter groß ist die Frei- und Gebäudefläche, die Ende August samt Inventar von privat an privat für rund 2,5 Millionen Euro verkauft wurde. Theoretisch hätte die Stadt die Fläche selbst kaufen und einen Joker ziehen können – der nennt sich Vorkaufsrecht. Das heißt: Käufer und Verkäufer müssen den Kaufvertrag bei der Stadt vorlegen. Die hat dann zwei Monate Zeit sich zu entscheiden, ob sie das Grundstück, das Haus oder eine Gewerbefläche selbst kaufen möchte – zu dem Preis, der im Kaufvertrag steht. Warum also zog die Stadt diesen Joker nicht? Dorothee Jacobs-Krahnen von der Freien Grünen Liste bemerkte, dass der Stadt bekanntermaßen Gewerbeflächen fehlen – zum Beispiel für den Umzug des Technologiezentrums. Das Gelände sei attraktiv, "und wir ärgern uns ständig, dass wir Grundstücke nicht erwerben", sagte Jacobs Krahnen und nannte das Vincentius und Siemens-Areal – beide nun in privater Hand.

  • Grundsatzdebatte um Ankauf von Grundstücken: Baubürgermeister Karl Langensteiner-Schönborn und Christoph Sigg vom Amt für Liegenschaften und Geoinformation versicherten, dass die Stadt stets ein Interesse habe, Flächen zu einem vertretbaren Preis zu kaufen. Für rund zehn Millionen Euro Saldo, so OB Uli Burchardt, habe die Stadt in den vergangenen Jahren Grundstück eingekauft. Im Fall der Bücklestraße verhindere aber die rechtliche Lage den Ankauf. "Eigentum ist ein hohes Gut", bemerkte Baubürgermeister Karl Langensteiner-Schönborn. "Da kommen Sie nur schwer in den Kaufvertrag rein." Die Stadt müsste dem privaten Käufer im Zweifel vor Gericht eine Fehlentwicklung des Geländes nachweisen und hätte bereits vor dem Verkauf Pläne dafür entwickeln müssen. Das Problem: Jeder Käufer werde erklären, den städtischen Planungsvorgaben folgen zu wollen, selbst wenn die Stadt das Gelände kurzfristig von einem Gewerbe- zu einem Misch- oder Wohngebiet erklärt. Sprich: Das Instrument gesetzliches Vorkaufsrecht erweist sich als zahnloser Papiertiger.