Dass der Gnadensee zwischen Allensbach und der Insel Reichenau zufriert und sich Schlittschuhläufer auf dem zugefrorenen Wasser tummeln, ist nicht wirklich eine Besonderheit. Wenn hingegen der gesamte Bodensee zufriert, dann handelt es sich um eine Sensation. Das letzte Mal sorgte dieses seltene Naturereignis im Jahr 1963 für Furore, denn vom 7. Februar bis 10. März war das große Eis tragfähig.
Der eiskalte Winter 1963
Es war ein unvergessliches Ereignis, sagen alle Zeitzeugen. Wenngleich die historischen Bilder Volksfeststimmung suggerieren, war längst nicht alles eitel Freude und Sonnenschein. Der Konstanzer Adi Brunner hatte gerade seine Militärzeit hinter sich gebracht und als Heizungsmonteur bei einer Firma in Meersburg angefangen.
Es war ein sehr langer und sehr kalter Winter. „Ich glaube, es waren dauerhaft Minus 10 Grad. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir jenen Winter richtig gefroren, denn auf solch ein Ereignis war keiner eingestellt, auch von der Kleidung her nicht“, sagt Adi Brunner.

Adi Brunner war froh über die „Liebestöter“
Bereits im Dezember sei seine Hauptbeschäftigung als Heizungsmonteur das Enteisen von Leitungen gewesen, berichtet Adi Brunner. „Das haben wir vor allem mit Gas-Sauerstoff-Brennern gemacht. Und ein Elektrogerät hatten wir, mit dem man hatte auftauen können.“
Unvergessen ist ihm die Angora-Unterwäsche – „bei uns hießen sie Liebestöter“ – die er noch hatte kaufen können. Unvergessen nicht, weil sie wohlig wärmten, sondern weil sie auf der Haut juckten und „wenn sie nass war, ist sie nicht schnell getrocknet“, so Brunner. „Und meine Oma hat mir immer heißen Tee mit Strohrum mitgegeben, damit ich auf der Baustelle nicht so gefroren habe; das war aber mehr psychologisch, als dass es wirklich geholfen hätte.“

Und dann kam das große Eis – die Seegfrörne. „Ich war einer der ersten, der von Konstanz nach Meersburg rübergelaufen ist. Mit Rucksack und Bergsteigerseil, falls jemand einbricht“, erzählt Adi Brunner. Angst habe er nicht gehabt, denn „das Eis war ja vom Eismeister freigegeben worden“. Aber das Eis habe gekracht. „Es hat Töne von sich gegeben; es war, als hätte es mit einem geschwätzt.“
Sein Vater habe sogar an der Prozession von Münsterlingen nach Hagnau, wo Adi Brunner Großmutter lebte, teilgenommen. „Das war eine riesengroße Prozession. Es war etwas Frommes, Großartiges; mein Vater hat noch lange davon erzählt“, so Brunner.
„Ich hatte Angst, dass sich das Eis auftut“
„Es war saukalt damals“, erinnert sich auch Kurt Köberlin. Er war damals gerade einmal zwölf Jahre alt. Sein Lehrer in der Stephansschule habe die Kälte mit jener in Russland verglichen. Mindestens zwei Pullover hat Köberlin in jenem Winter getragen.
Und dann musste er mit den Eltern aufs Eis. „Das Lockmittel war weiße Bratwurst“, erzählt Kurt Körberlin, denn geheuer war dem Buben das Laufen über den See ganz und gar nicht.

„Ich hab‘ scho eweng Bammel g‘het. Ich war gut beieinander und hatte Sorge, dass mich das Eis nicht trägt“, gesteht er und spricht dann offen von der „Angst, dass sich das Eis auftut“. Lieber wäre es ihm gewesen, nahe am Ufer entlangzulaufen; aber nein, er musste mit den Eltern über das große Eis.
Der Weg führte vom Kreuzlinger Hafen nach Münsterlingen und dann quer über das Eis zum deutschen Ufer. „Es war wie eine Völkerwanderung; ein stetiges Hin und Her von vielen Menschen. Es gab sogar richtige Trampelpfade.“ Auch Köberlin wird das Krachen des Eises nie vergessen.

Volksfeststimmung auf dem Bodensee
„Es war ein Volksfest auf dem See. Wurstbuden und Glühweinstände standen auf dem Eis, Dixiebands haben gespielt“, das ist Konrad Frommer unvergessen. „Wir sind als 16-jährige Kerle nach Meersburg gelaufen; manche mit Schlittschuhen, aber auch ohne ging‘s gut. Wir waren jung, da hat man das Risiko eher in Kauf genommen.“
Es muss eine erstaunliche Atmosphäre gewesen sein. Es habe auch stets Informationen gegeben, wo das Eis freigegeben war und wo nicht. Als es langsam taute, brach sukzessive die große Eisfläche. „Das bedrohliche Krachen höre ich heute noch im Schlaf“, schildert Konrad Frommer.

Fußballer dagegen waren genervt
Die Seegfrörne „hat uns genervt“, gesteht Manfred Büsing heute lachend. Er war seinerzeit beim FC Konstanz aktiv. Die Heimspiele fanden im Bodenseestadion statt, doch die Zuschauer blieben wegen des Naturspektakels aus.
„Wir hatten vielleicht gerade mal 200 Zuschauer, aber 20.000 Leute waren auf dem See“, erzählt Büsing. Natürlich ist auch er aufs Eis gegangen, war aber vorsichtig. „Eismeister Spirando hatte zu mir gesagt, im Konstanzer Trichter könne ich unbedenklich gehen.“

Manfred Büsing kann sich auch gut daran erinnern, wie im Konstanzer Hafen die Passagierschiffe freigesägt wurden. Warum hat man nicht gewartet, bis es taut? „Man hat die Schiffe freigesägt, damit es keinen zu großen Druck auf die Schiffskörper gibt. Wenn Eis sich erwärmt, dehnt es sich aus. Das gibt einen Mordsdruck. Die Bodensee-Schiffsbetriebe haben das damals zur Vorsicht gemacht“, erklärt Manfred Büsing.