Dirk musste nicht lange zögern, als er erfuhr, dass am Konstanzer Lutherplatz Corona-Impfungen für Obdachlose angeboten werden. „Für mich war von Anfang an klar, dass ich mich impfen lasse.“ Er gehöre zur Risikogruppe, sagt er dem SÜDKURIER an diesem Dienstagvormittag.
„Ich bin eingeschränkt mit dem Herzen und den Bronchien“, erklärt der 59-Jährige, der seinen Namen nur mit Dirk angibt.

Darüber hinaus fände er es aber auch wichtig, sich, seine Bekannten und andere Wohnungslose vor dem Coronavirus zu schützen, betont Dirk. Er ist seit den 1970er-Jahren wohnungslos, wie er dem SÜDKURIER erzählt. Seit über 15 Jahren lebe er in Konstanz.
Nicht nur Dirk ist froh, dass am Dienstag ein mobiles Impfteam des Kreisimpfzentrums in der Tagesstätte der AGJ-Wohnungslosenhilfe vorbeischaut, um die erste von zwei Impfungen mit dem Wirkstoff von Biontech-Pfizer vorzunehmen. Am Tag darauf ist das Team dann im Jakobushof in Radolfzell, der ebenfalls zur AGJ Wohnungslosenhilfe gehört.
AGJ-Leiter: „Die wenigsten sind organisatorisch in der Lage, einen Impftermin zu machen“
„Seitdem die mobilen Impfteams mit den Pflegeheimen durch sind, haben wir versucht, einen Termin zu bekommen“, sagt Jörg Fröhlich, Leiter der AGJ-Wohnungslosenhilfe.
Zwar gehören Menschen, die in Notunterkünften sowie Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe untergebracht sind oder betreut werden, zur sogenannten Prioritätsgruppe 2 und sind in Baden-Württemberg bereits seit längerer Zeit impfberechtigt.

Doch es sei sinnvoll, dass die mobilen Impfteams direkt in die Einrichtungen kämen, betont Fröhlich: „Wir haben für die Wohnungslosen, die bei uns sind, bereits zuvor Impfbescheinigungen ausgestellt, aber die wenigsten sind organisatorisch in der Lage, einen Termin zu machen.“
Oft scheitere es bereits an einem fehlenden Internetzugang, um einen Impftermin zu vereinbaren. „Und viele haben auch schlicht anderes im Kopf: Das tägliche Überleben auf der Straße.“ Er wisse nur von einer Person, die sich bereits habe impfen lassen, ergänzt Fröhlich: „Und die hatte jemanden, der sie dabei unterstützt hat.“
Erhöhte Risiko für Obdachlose, sich mit Corona zu infizieren
Umso wichtiger sei deshalb das Impfangebot direkt vor Ort, in der AGJ-Tagesstätte, betont Jörg Fröhlich. Dass Wohnungslose in der Impfreihenfolge zur Prioritätsgruppe 2 gehören, hat nämlich seinen Grund.
„Da ist zum einen die Lebenslage: Unsere Klienten können sich oft nicht so ausreichend schützen wie Menschen, die eine Wohnung haben. In den Notunterkünften gibt es teilweise Mehrbettzimmer. Wer bei Bekannten übernachten kann, schläft oft in einer kleinen Wohnung auf dem Sofa oder dem Boden.“
Und auch in der AGJ-Tagesstätte seien die Räume beengt, obwohl derzeit nur ein Bruchteil eingelassen werden darf. Hinzu käme, dass viele der Wohnungslosen, die sie betreuten, erhebliche Vorerkrankungen hätten, erklärt Fröhlich. „Und wir wären auch froh, wenn sich möglichst viele impfen ließen, zum Schutz der anderen Bewohner, aber auch unserer Mitarbeiter.“
„Mir fehlen die Menschen“: Auch Mitarbeiter lassen sich impfen
Wer in einer Einrichtung der Wohnungslosenhilfe arbeitet, gehört ebenfalls zur Prioritätsgruppe 2. Bei der AGJ seien sieben der neun Mitarbeiter bereits einmal geimpft worden, sagt Fröhlich: „Vereinzelt holen sie das jetzt nach.“
Zu denen, die das Angebot am Dienstag nutzen, gehören Kristin Rowolt und Christian Sock, der bei der AGJ als Ehrenamtlicher mitarbeitet. Die beiden kommen gerade vom Konstanzer Palmenhaus, wohin die AGJ-Tagesstätte als Notangebot verlegt worden ist, während im Haus am Lutherplatz geimpft wird.

„Wir konnten spontan kommen, als gerade eine Lücke frei war. Sonst hätten wir unseren Termin später am Tag gehabt“, erklärt Kristin Rowolt, die seit 2010 für die AGJ-Wohnungslosenhilfe in Konstanz als Hauswirtschafterin arbeitet.
Corona habe alles verändert, sagt sie: „Vorher war das Haus immer voll, jeder Platz besetzt.“ Und jetzt dürften nur noch maximal fünf Personen gleichzeitig im Aufenthaltsraum sein, jeweils allein an einem Tisch.

Das Gesellige falle komplett weg, bedauert Rowolt. „Andere nehmen den Teller mit dem Essen nach draußen oder verteilen sich in den anderen Räumen des Hauses.“ Aber insgesamt ist auch dann nur Platz für elf Personen. „Mir fehlen die Menschen. Die Abfertigung am Fenster macht nicht glücklich, weder mich noch die Leute.“
Rowolt hofft, dass sich dies nun auf absehbare Zeit ändern wird. „Erst wusste ich nicht recht, ob ich mich impfen lassen soll. Aber ich habe es jetzt gemacht, denn wenn genügend geimpft sind, kann es wenigstens in kleinen Schritten zu Lockerungen kommen.“
Insgesamt hatten sich für den Impftermin am Dienstag 54 Personen angemeldet, 47 sind gekommen, wie AGJ-Leiter Jörg Fröhlich am Nachmittag bestätigt.

Fröhlich ist zuversichtlich, dass jene, die sich jetzt haben impfen lassen, auch den zweiten Termin in rund zwei Wochen wahrnehmen werden. „Und wenn etwas dazwischen kommt, kann man die zweite Impfung auch im Jakobshof in Radolfzell machen lassen oder umgekehrt.“
Dirk jedenfalls wird sicher wiederkommen, wenn die zweite Impfung ansteht, wie er dem SÜDKURIER zum Abschied versichert. Und er hofft, dass ein Fortschritt bei den Impfungen dazu beiträgt, dass Kulturbetriebe öffnen können auch bald mehr Läden öffnen dürfen. „Ins Kino gehen oder an ein Konzert: Da freue ich mich drauf.“