Wer je Zweifel hatte, ob unser Konstanzer Theater am Puls der Zeit ist, kann diese spätestens jetzt erleichtert abschütteln. Und das nicht, weil Hausleitung und Ensemble sich zeitweise dem Zeitgeist-Thema Geschlechteridentität verschrieben haben, bis zu einem Punkt, an dem es nerven konnte. Nein.
Schon 2022/23 stellte Intendantin Karin Becker die Spielzeit unter das Motto „Respekt ist zumutbar. Immer“. Das war in Anlehnung an einen Text der Publizistin Carolin Emcke, und nicht wenige fragten sich, warum das in Konstanz jetzt ein Thema sein soll. Wie gut und wie wichtig das war, zeigt sich – leider – von Tag zu Tag deutlicher.
Respekt ist mehr als weiche Wertschätzung
Ja, Respekt ist das Gebot der Stunde. Auch und gerade in Konstanz, das so viel auf sich und seine gute politische und zivilgesellschaftliche Kultur hält. Umso mehr lohnt sich, mal auf die Bedeutung der Worte zu schauen. Re-Spekt bedeutet wörtlich Zurück-Schau. Und damit kann, erstens, Respekt eben keine weiche Wattewolke namens Wertschätzung sein, sondern kann auch in schonungsloser Kritik bestehen. Zweitens: Diese Kritik setzt aber voraus, dass man den anderen überhaupt im Wortsinn „geschaut“, „betrachtet“, also sich mit ihm wirklich befasst hat. Drittens: Weil genau das fehlt, ist vieles, was an Kritik im Umlauf ist, eben nicht Respekt, sondern nur Pöbelei.
Und andersherum ist deswegen manches, was tatsächlich Respekt ist, auch mal eine Zumutung. Es ist ein fundamentales Missverständnis, Respekt schaffe eine Wohlfühlatmosphäre, in der sich alle unablässig sagen, wie toll man doch ist und wie gut man miteinander umgeht. Niemals sollten wir das Lob und den guten Umgang unterschätzen. Aber Respekt ist etwas anders.
Wie groß der Wunsch nach einem respektvollen Umgang in Konstanz ist, lässt sich aber nicht nur auf einem Banner an der Theaterfassade ablesen. Menschen in Verantwortung trauen sich immer öfter, darüber zu sprechen, wie respektlos ihnen entgegengetreten wird.
Dazu tragen vermeintlich anonyme Kommunikationskanäle bei, in denen die Wortwahl nicht krass genug sein kann, weil das den meisten Beifall bringt. Sogenannte soziale Netzwerke sind zu Schauplätzen der Rohheit und Respektlosigkeit verkommen, man muss sich nur mal anschauen, was in einschlägigen Konstanzer Gruppen und Kanälen so geschrieben wird.
Kein Danke, kein Bitte, kein Lob und kein Interesse: So respektlos geht es oft zu
Ach ja, wenn gerade von Menschen in Verantwortung die Rede ist. Da sind nicht in erster Linie die Führungskräfte oder die oberen Repräsentanten gemeint. Das sind die, die 80 Insassen eines Linienbusses sicher durch die Stadt fahren, obwohl sie wegen drei Minuten Verspätung angeblafft werden. Das sind die, die an der Kita-Tür oder beim Elternabend nur selten ein Dankeschön hören, weil sie unsere Kinder liebevoll erziehen, obwohl sie vielleicht in der eigenen Familie schon bis zum Anschlag gefordert sind. Und das sind auch die, die dort hingehen, wo alle anderen flüchten: Polizeibeamte, Feuerwehrleute, Rettungssanitäterinnen, Notärzte.
Über viele dieser Menschen, die in Konstanz Verantwortung übernehmen und deshalb unsere Aufmerksamkeit verdienen, haben wir im SÜDKURIER in den vergangenen Monaten in der Serie „Respekt“ berichtet. Wir haben Menschen zu Wort kommen lassen, deren Arbeit allen Respekt verdient – und sie haben berichtet, wie sehr sie sich freuen, wenn sie das auch in ihrem Alltag erleben. Und wie sehr es sie verletzt, wenn sie diesen Respekt von Kunden, Mitbürgern, Vorgesetzten nicht entgegengebracht bekommen. Selten hat eine Serie so viel Resonanz erzeugt. Das ist ein wunderbares Hoffnungszeichen.
So weit, so gut. Aber wenn scheinbar alle in der Stadtgesellschaft mehr Respekt wollen, warum gibt es dann so wenig davon? Hat es eine Minderzahl von Respektlosen geschafft, einer Mehrzahl ihre rüden Umgangsformen aufzuzwingen (oder zumindest diesen Eindruck zu erwecken)? Das ließe sich einfach lösen, wenn die Mehrheit der Respektvollen sich dem widersetzte. Oder ist es so, dass es nichts kostet, Respekt einzufordern, aber mühsam ist, diesen dann auch jederzeit und unbedingt zu erweisen? Auch da ist die Lösung allen bekannt, sie lautet schlicht Anstand und Disziplin.
Ja, wir müssen auch den respektvollen Streit wieder lernen
Wahrscheinlich aber gibt es zu viele Vorstellungen von Respekt. Da ist die Lösung am anspruchsvollsten, denn dafür müssen wir den respektvollen Dissens – ja: auch den Streit – wieder lernen. Was wir dabei nicht brauchen, ist eine Sprache, die alle gesellschaftlichen Risse mit Zuckerguss überkleistert. Ganz im Gegenteil: In einer Stadtgesellschaft, in der die Fliehkräfte zunehmen, ist Klartext gefragt, auch wenn es in der Sache schmerzen mag. Pauschalisierend, polarisierend, herabwürdigend sollte es hingegen nicht werden.
Und da geht es dann auch um uns, um die Journalistinnen und Journalisten des SÜDKURIER. Manches von dem, was wir tun, wird auch mal als respektlos erachtet. Wenn wir darauf angesprochen werden, versuchen wir darauf einzugehen – was nicht bedeutet, dass am Ende dann alle einer Meinung sind. Leichter fällt uns das übrigens, wenn unser Bemühen um Respekt erwidert wird. Auch das ist oft nicht mehr der Fall. Wir lassen uns aber nicht unterkriegen und arbeiten weiter jeden Tag daran, nicht ein Teil des Problems, sondern ein Teil der Lösung zu sein.
Wer entscheidet Zukunft? Überlassen wir aus lauter falschem Respekt den Pöblern das Feld?
Das Theater Konstanz hat die laufende Spielzeit erneut unter eine kluge Leitfrage gestellt: „Wer entscheidet Zukunft?“ Das weist über die Bedürfnisse und Befindlichkeiten des Hauses (die bei der Mottowahl durchaus eine Rolle gespielt haben dürften) weit hinaus. Man könnte sogar sagen, diese Leitfrage schließt direkt an das Motiv des Vorjahres an. Denn noch ist nicht gewiss, ob auch in Konstanz die Respektvollen die Zukunft entscheiden. Oder ob sie, womöglich gar aus falschem Respekt heraus, ausgerechnet den Respektlosen das Feld überlassen.