Am 3. September 2020 starb Patricia Maria Helene Gandor auf der Straße zwischen den Allensbacher Ortsteilen Kaltbrunn und Freudental das erste Mal. Ihr Körper in Motorradkleidung, ein Helm auf dem Kopf. Nach acht Minuten belebten sie die Ersthelfer wieder. Am 4. September 2020 starb sie das zweite Mal in einem Krankenbett in Tübingen. Sie war 16 Jahre alt.
Der Tod von Patricia erschütterte damals viele Menschen in der Region. In Konstanz war sie ein bekanntes Gesicht: Sie jobbte in der Kneipe Hafenmeisterei, um sich ihren großen Traum zu erfüllen: ihr Motorrad. Sie war eine richtig gute Diskuswerferin und Kugelstoßerin und hatte für den Turnverein Konstanz so viele Medaillen und Urkunden gewonnen, dass die kaum Platz hatten an der Wand in ihrem Kinderzimmer.
Ihre Mutter Ina Gandor hatte mit den Trophäen das Grab geschmückt. Als die Medaillen wegkamen, bat sie um Hilfe. So kam der erste Kontakt mit dem SÜDKURIER zustande.
Wie geht es Ina Gandor heute? Wie hat sie es geschafft, ins Leben zurückzufinden, was hat ihr dabei geholfen und was nicht?
Zurück ins Leben: Gefühle zeigen, gradlinig sein
Das Haus, in dem Ina Gandors Mietwohnung ist, liegt am Fuße eines Weinbergs, wenn sie aus dem Fenster schaut, sieht sie den Bismarckturm. Sie trägt eine weiße Fleece-Jacke. Die gehörte ihrer Tochter. Und weil Ina Gandor so abgenommen hat, passt sie ihr. „Für mich war nach Pattis Tod klar, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder ich finde einen Weg im Leben oder ich folge ihr“, sagt sie.
Die Worte von ihr zu hören, tut selbst einer Außenstehenden weh. Mit ihrer Tochter Vivi, Pattis älterer Schwester, hatte Ina Gandor deshalb Streit, erwähnt sie. Und sie sagt auch, später im Gespräch am Esstisch, dass sie nach Pattis Tod noch gradliniger ist, dass sie Dinge nicht mehr beschönigt und Sachen, die ihr nicht guttun, abbricht und ihre Gefühle zeigt.
Wie kann man Menschen helfen, die einen schweren Verlust erlebt haben? Indem man ihnen zeigt, dass sie mit genau diesen Gefühlen, die sie gerade durchleben, und mit all ihren Bedürfnissen und Gedanken willkommen sind, erklärt Trauerbegleiterin Christina Labsch-Nix. Die Diplom-Sozialarbeiterin hat in ihrer Arbeit im Hospiz Konstanz viel mit Trauernden zu tun.
„Trauer ist ein gesundes, lebendiges Gefühlsspektrum, es ist auch Wut, Hoffnung, Rückschläge, Wieder-Aufstehen, Zweifel, Dankbarkeit.“Christina Labsch-Nix, Trauerbegleiterin
Wut: „Warum meine Patti? Warum?“
Ina Gandor glaubt nicht an Gott, doch sie mag die Ruhe in Kirchen. Das sei, wie wenn die Stille einen einsauge. Dort frage sie Gott manchmal: „Warum meine Patti? Warum?“ Und sie fragt Patti, warum sie sie nicht angerufen habe an dem Tag. „Sie rief immer an, wenn sie losfuhr.“ Jedes einzelne Mal, seitdem Patti in dem Juni, in dem sie 16 wurde, ihr Motorrad bekam. Und sie fuhr viel. „An so einem Tag wie heute wäre sie gefahren.“
Die Sonne scheint ins Wohnzimmer, reflektiert auf dem großen Foto von Patti, das auf dem Fensterbrett steht. Die Trauer von Ina Gandor hat ihr das Gute und das Böse gezeigt. „Es gab Leute, die haben getan, als wäre nichts gewesen. Dabei ist mein Kind gestorben! Andere haben sich einfach nicht mehr gemeldet. Freundschaften sind zerbrochen und in so einer Zeit merkt man, wer wirklich da ist“, sagt sie und lacht kurz auf.

Das klingt schlimm und dennoch ist es das, was viele Menschen erleben, die jemanden verloren haben. Christina Labsch-Nix erklärt: „Das ist sogar der Klassiker, Leute wechseln die Straßenseite, weil sie nicht wissen, wie sie mit so einer Trauer umgehen sollen.“
Unserer Gesellschaft wird häufig ein Problem im Umgang mit Tod und Sterben vorgeworfen: Statt offen zu weinen und über den Toten zu sprechen, wird von Trauernden in unserer Kultur erwartet, ihre Gefühle bitte privat zu halten. Dass das grundfalsch ist, da sind sich Experten einigen.
„Trauer stört die Funktionalität, die unsere Gesellschaft fordert und wirkt auf viele Menschen bedrohlich“, sagt die Villinger Psychotherapeutin Britta Hahn. Dabei sei Trauer ein natürlicher und elementarer Prozess.
„Die Tiefe der Trauer und die Menge der Tränen sind nicht Ausdruck eines Versagens, sondern ein Zeichen dafür, wie viel Verbundenheit und Liebe zum verlorenen Menschen da sind.“Britta Hahn, Psychotherapeutin
Was brauchen Trauernde wirklich? Keinen Menschen der diese Trauer repariert, sondern mit seinem Herzen den Trauernden Menschen begleitet, sagt Britta Hahn. Jemand, der sich die Zeit nimmt, zuzuhören und die Toleranz aufbringt, diesen Gefühlen, die heftig sein können, mit Respekt zu begegnen, sagt Christina Labsch-Nix.
Labsch-Nix erklärt: „Abweisung nicht persönlich nehmen, denn Trauernde sind in einer Ausnahmesituation!“ Ein mitfühlender Blickkontakt könne helfen – ein Lächeln oder einfach nur eine Umarmung. Wenn man nicht wisse, was man sagen solle, reiche auch ein gebackener Kuchen und eine Karte vor der Tür. „Danach kann der Trauernde selbst entscheiden, ob er sich melden möchte.“
Hoffnung: „Ich bin Patti so nah“
Auch Ina Gandor bekam Post. „Die erste Karte kam von jemandem, den ich nicht kannte. Das tat gut. Auch, dass Nachbarn, Freunde und Bekannte Mitgefühl schenkten und einfach da waren.“ Ein besonderer Moment war für sie die Beerdigung mit 200 Gästen. Wenn sie darüber spricht, lächelt sie: „‘Siehste, Patti‘, dachte ich da. Weil sie noch kurz vorher meinte, als sie einmal traurig war, sie hätte so wenig Freunde.“
Kurz nach Pattis Tod stieg Ina Gandor mit einer Freundin in das Riesenrad am Seeufer, erzählt sie. „Das Rad hielt, wir waren ganz oben. Ich dachte: ‚Ich bin Patti so nah.‘ Und dann, im gleichen Moment, wurde es mir klar: Patti hätte sich gewünscht, dass ich ihr nicht folge, dass ich mein Leben wieder in den Griff kriege. Ich dachte: ‚Das Leben hält vielleicht doch noch was für mich bereit.‘“ Sie begann eine Psychotherapie.
Rückschlag: „Als läge eine Last auf mir“
Sie probierte, wieder als Krankenschwester im Klinikum Konstanz zu arbeiten, wie vorher auch. Nur: „Ich war nervös, habe gezittert, es war, als läge eine Last auf mir“, erinnert sich Ina Gandor. Der November verging so, der Dezember und der Januar. Alles erinnerte sie an Pattis Tod. Die Intensivstation, auf der ihre Tochter kurz gelegen hatte, befand sich auf der gleichen Etage im selben Haus. Im Januar 2021 brach Ina Gandor auf der Arbeit zusammen.
Die Konstanzerin begann eine stationäre Therapie. „Es brachte mir nichts.“ Sie brach vorzeitig ab.
Dass es wichtig ist, auszuprobieren, welche Form der Therapie für einen passt und nicht alles gleich funktionieren muss, sagt auch Christina Labsch-Nix: „Trauer ist ein Prozess, ist ein Weg, sehr individuell, jeder braucht etwas anderes. Und das kann man rausfinden, in einem persönlichen Gespräch, einem therapeutischen Setting.“
Wieder-Aufstehen: „Wer leben will, muss sich bewegen.“
Die Psychotherapie war es, die Ina Gandor am meisten half und noch immer hilft. Sie sagt: „Ohne meine Psychotherapeutin hätte ich es nicht geschafft. Ich lernte, dass sich bewegen muss, wer weiterleben will. Auch, wenn ich keine Lust hatte, zum Beispiel mit Freunden spazieren zu gehen, tat ich es trotzdem. Das würde ich auch jedem raten, der trauert. In Bewegung zu bleiben. Und unbedingt eine Psychotherapie zu machen.“
Sie suchte sich eine neue Arbeitsstelle. Es gibt jetzt wieder Tage, an denen sie Spaß daran hat, sagt sie. Zu Hause verliert sie sich gerne für Stunden im Diamond Painting – das ist wie Malen nach Zahlen, nur mit funkelnden Steinchen. Es sind Momente der Ruhe für ihre Gedanken.
Zweifel: „Jeden Tag, immer wieder“
Denn eine Frage stellt sie sich jeden Tag. Immer wieder: Hätte sie darauf bestehen sollen, dass Patti noch ein Jahr wartet mit dem Motorrad? Sie schüttelt den Kopf, scrollt auf ihrem Handy nach einem Foto. Darauf sitzt Patricia das erste Mal auf der Maschine: „Ich konnte ihrem Strahlen nicht widerstehen- sie war so glücklich, es war ihr großer Traum.“
Geblieben ist der Schmerz. „Es ist, als ob mir das Herz rausgerissen wurde und in tausend Splitter zersprang. Und jeden Tag bei jedem Schritt, den ich gehe, laufe ich auf Scherben.“
Die Zeit heilt alle Wunden – Ina Gandor hasst den Spruch. Der Schmerz ist jetzt Teil ihres Lebens.
„Früher sagte man: ‚Du musst loslassen‘. Das ist heute nicht mehr gängiger Umgang in der Trauerbegleitung“, erklärt die Psychotherapeutin Britta Hahn. Die Beziehung zum Verstorbenen ende nämlich nicht, sondern bestehe über den Tod hinaus.
Dankbarkeit: Platzen können vor Stolz
In der Erinnerung ist Patti Ina Gandors Begleiterin. Ihre Patti, die so gerne gekuschelt hat. Die immer ein warnendes, langgezogenes „Mamaaa“ ertönen ließ, wenn Ina Gandor eine Zigarette zückte. Die so hübsch war, dass Ina Gandor manchmal hätte platzen können vor Stolz, wenn sie sie ansah.
Ina Gandor öffnet in ihrer Konstanzer Mietwohnung die Tür zu Pattis Zimmer. Monatelang hatte sie hier nichts angerührt. Sie deutet auf eine schwarze, von einer dünnen Staubschicht bedeckte Federmappe, und sagt: „Als würde sie gleich wieder kommen.“ Ein Traumfänger mit Federn hängt in der Luft. An der türkisen Wand kleben ausgeschnittene Papierbuchstaben: „Never stop dreaming – only the dreamers can fly.“
Im Februar will Ina Gandor das Zimmer ausräumen, streichen und neu dekorieren – mit Möbeln im Betonlook, wie Patti es gemocht hätte. Das Zimmer soll dann Gästezimmer sein für ihre Tochter Vivi, die eine eigene Wohnung in Allensbach hat.
Im Spätsommer, um die Zeit von Pattis Todestag, war Ina Gandor mit Vivi in Griechenland. Oft, sagt Ina Gandor, sage Vivian: „Mama, du bist peinlich“, wenn sie etwas Verrücktes mache. In diesem Urlaub sprang Vivi mit ihr in Klamotten in den Hotel-Pool.