Sie haben eine überbordende Bürokratie beklagt. Wir haben einen zunehmenden individuellen Egoismus und eine gewisse „Das Boot ist voll“-Mentalität bei denen, die schon da sind. Wie viel Gestaltungsmacht hat da eine Stadt, ein Gemeinderat, ein Oberbürgermeister noch?

Wir Kommunen haben definitiv nicht genug Gestaltungsmacht. Ein Beispiel: Es kann doch nicht sein, dass wir jedes Jahr einen Haushalt von weit über 300 Millionen Euro bewegen und das alles selbst entscheiden – aber nicht befugt sind, in einer bestimmten Straße Tempo 30 zu verfügen.

Statt vor Bürokratie stehen wir hier aber vor Regelungswut, Gesetzgebung, Gerichtsverfahren, Gutachten und vor dem Bedürfnis nach Absicherung: Wir haben als Gesellschaft sehr hohe Ansprüche an die Verfahren, es darf niemandem Unrecht getan werden. Das macht uns aber langsam. Ich hoffe, dass wir als Volk, als Staat sagen: Da müssen wir wieder schneller werden.

Haben Sie Hoffnung, dass sich das in Deutschland nochmals ändern kann?

Bundeskanzler Olaf Scholz hat vor einer Weile gesagt: Wir haben in einem guten Jahr Ampel-Regierung schon über 100 Gesetze gemacht. Ich habe mir gedacht: Cool wäre es gewesen, ihr hättet 100 Gesetze abgeschafft. Das wäre mit Blick auf die Geschwindigkeit mal was gewesen. Aber zu Ihrer Frage: Ja, ich glaube schon, dass wir das können. Aber wir müssen es als Gesellschaft gemeinsam wollen. Ich oder der Gemeinderat, wir können das nicht ändern.

Macht die Stadt dort genug, wo sie selbst handeln könnte? Warum gibt es fünf breite und meist leere Autospuren auf der Alten Rheinbrücke und zwei enge, überlastete Fahrradstreifen? Wo bleibt die die Phantasie für einen Pop-Up-Radweg? Warum probieren Sie einen Kreisel am Zähringerplatz nicht einfach mal aus? Ist das so schwierig?

Ja, das ist es. Der Zähringerplatz ist gründlich untersucht. Die Verkehrsbeziehungen dort sind so komplex und wir sind räumlich zu eingeschränkt. Wir wissen, dass dort ein Kreisverkehr nicht funktioniert, weil entweder Radfahrende oder Busse verlieren würden. Beim Beispiel der Rheinbrücke wüsste ich nicht, wie man dahinter weiterfahren sollte. Auf der Konzilstraße habe ich auf der einen Seite Häuser, dann einen viel zu schmalen Geh- und Radweg, zwei Fahrspuren, die ich für funktionierenden Busverkehr brauche, und auf der anderen Seite die Bahnlinie.

Ich bin selbst Radfahrer und ich kenne die Engstellen. Aber wir sind auch mutig! Wir haben eine Fahrradstraße durch den Lorettowald eingerichtet. Übrigens nicht, weil wir die Fahrräder auf der Straße, sondern weil wir sie aus dem Wald raushaben wollen. Da sind viele, auch alte Menschen unterwegs und mit den Rädern mit Anhängern, Kindern, SUPs und so weiter wurde es zu eng und gefährlich. Jetzt haben wir dort mit dem Überholverbot von einspurigen Fahrzeugen für Autos ein neues Verkehrszeichen und haben etwas fast Unmögliches möglich gemacht.

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Erklären Sie doch mal in einem Satz: Was ist Smart Green City, und wer braucht das?

Es kann keine nachhaltige Entwicklung einer Stadt ohne Digitalisierung geben. Digitalisierung muss die Antworten geben auf die Wärme der Zukunft, die Energie der Zukunft, den Abfall der Zukunft, die Mobilität der Zukunft und auf das soziale Miteinander in der Stadt der Zukunft – von der Kinderbetreuung bis zur Altenpflege. Auf all das kann Digitalisierung Antworten geben. Jetzt mache ich mal ein Komma…

…es ist ohnehin schon mehr als ein Satz.

Smart Green City ist ein Projekt, das mit ganz vielen Einzelprojekten konkret aufzeigt, wie so etwas funktioniert und sich anfühlt. Beispiel Bäume: Wir gießen 17.000 Bäume im Stadtgebiet, ohne unsere Wälder. Wenn Digitalisierung hilft, dass wir gezielt dort gießen, wo es am dringendsten ist, habe ich einen enormen Nutzen erzielt. Ich verstehe jede und jeden, die oder der sagt: Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Aber ich sage auch: Jetzt lasst uns mal schaffen. Und ja, da liegt ein Risiko drin, aber eben auch eine große Chance. Es ist doch toll, dass wir eine Verwaltung mit vielen engagierten jungen Leuten sind, die da mitmischen wollen!

„Digitalisierung muss die Antworten geben auf die Wärme der Zukunft, die Energie der Zukunft, den Abfall der Zukunft, die ...
„Digitalisierung muss die Antworten geben auf die Wärme der Zukunft, die Energie der Zukunft, den Abfall der Zukunft, die Mobilität der Zukunft und auf das soziale Miteinander in der Stadt der Zukunft – von der Kinderbetreuung bis zur Altenpflege“: Uli Burchardt, Oberbürgermeister von Konstanz, verteidigt das umstrittene Programm Smart Green City. | Bild: Hanser, Oliver

Haben Sie noch einen Überblick über all die Handlungsprogramme?

Ja, es sind doch gar nicht viele. Die Handlungsprogramme braucht es unbedingt, wir müssen die Dinge bündeln. Vorher haben wir bei jedem Bebauungsplan, jeder Einzelmaßnahme eine Grundsatzdiskussion geführt, ob wir zum Beispiel noch Wohnraum brauchen. Jetzt, dank des Handlungsprogramms Wohnen, reden wir nicht mehr über das Ob, sondern über das Wie. Aber was auch stimmt: Wir haben gerade sehr viele Projekte und ich habe dem Gemeinderat gerade eben in der Klausurtagung gesagt, dass wir aus Sicht der Verwaltung auf die Bremse treten müssen. Es hat keinen Sinn, Dinge zu beschließen, die wir nicht umgesetzt bekommen.

Hat es wirklich Priorität, in Wohngebieten die Breite von Gehwegen zu ermitteln und zu schauen, wo man Parkplätze eliminieren kann, wo sich noch nie jemand beschwert hat, es sei zu schmal?

Wenn sich die halbe Verwaltung damit beschäftigten würde, wäre das nicht angemessen. Aber das ist eine Person, die daran arbeitet. Und das finde ich schon richtig. Wir haben in puncto Fußverkehr große Themen. Nicht nur, aber insbesondere mit Blick auf ältere Menschen und Querungsmöglichkeiten. Es geht am Ende um die Frage: Wo müssen wir am dringendsten handeln?

Da habe ich einen Vorschlag: Unterkünfte, Kita-Plätze, Schulplätze, Arbeitsplätze für Geflüchtete. Schon jetzt kann die Stadt ihren Bürgern ihre Rechtsansprüche nicht erfüllen, und es kommen neue Ansprüche dazu, zum Beispiel bei der Betreuung von Grundschülern.

Bei der Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern kann ich sagen: Wir werden diesen Rechtsanspruch nicht in der vorgegebenen Zeit erfüllen können, das ist völlig ausgeschlossen. Das sage ich seit Jahren. Bei der Betreuung der unter Dreijährigen waren wir lange an der Spitze in Baden-Württemberg und sind es nicht mehr. Das liegt an der hohen Geburtenrate und am Fachkräftemangel.

Wir haben Kitas gebaut und können sie nicht in vollem Umfang betreiben. Die Antwort ist auch hier wieder Wohnraum. Da sind Bund und Länder gefragt, jetzt sofort zum Beispiel mit Zinsvergünstigungen zu helfen. Sonst fährt die Bauwirtschaft runter und kommt in zwei Jahren nicht mehr hoch. Wir können uns eine Pause beim Wohnungsbau nicht leisten. Das betrifft übrigens ganz Deutschland.

Der vorläufig letzte Spatenstich bei der Wobak: In der Leipziger Straße packen von links Joachim Dannecker , Anne Mühlhäußer, OB Uli ...
Der vorläufig letzte Spatenstich bei der Wobak: In der Leipziger Straße packen von links Joachim Dannecker , Anne Mühlhäußer, OB Uli Burchardt, Wobak-Chef Jens-Uwe Götsch, Michael Moser (Wobak) und Architekt Hannes Mayer an. Bei den aktuell hohen Preisen und Zinsen sagt die städtische Wohnungsbaugesellschaft: In dieser Lage fangen wir nichts Neues mehr an. | Bild: Hanser, Oliver

Zinsvergünstigen, bringt das wirklich was?

Ja. Wenn ich heute Baukosten von 5.000 Euro pro Quadratmeter habe und fünf Prozent für Zins und Tilgung aufwenden muss – was noch günstig wäre -, dann kostet der Quadratmeter über 20 Euro Miete pro Monat. Kalt. Ohne Grundstück. Das geht nicht auf, aber wir können auch keinen defizitären Wohnraum auf Kosten der Allgemeinheit in der Stadt bauen. Deswegen wäre es für mich schon die richtige Lösung, wenn der Bund wie früher einen Teil dieses Zinses finanziert. Wer bezahlbaren Wohnraum schafft, kriegt einen Zuschuss in den Zins. Dann sieht die Welt wieder anders aus.

Nicht nur beim Wohnungsbau geht es in Konstanz gefühlt zu langsam. Wo würden Sie sich Beschleunigung wünschen?

Wir haben für die Größe der Stadt wahnsinnig viel am Laufen. Kitas, Schulen, das Berufsschulzentrum des Landkreises, Sporthallen, Straßen, Fahrradstraßen, Wohnungsbau und einen neuen Stadtteil – und dann wollen wir beim Klimaschutz auch noch vorne dabei sein. Das ist schon viel. In vielem, finde ich, liefern wir schnell, gut und lautlos. Aber ja, wir können jetzt nicht ohne Weiteres neue Projekte draufpacken. Der Fokus muss auf dem Wohnraum liegen.

Im Juni 2024 wird gewählt, der Wahlkampf ist schon zu spüren. Was bekommen Sie in Zeiten politischer Profilierungskämpfe als Oberbürgermeister und Verwaltungschef überhaupt noch hin?

Wir gehen als Verwaltung davon aus, dass wir spätestens ab April nicht wie üblich arbeitsfähig sind, weil dann alles von der Kommunalwahl überlagert wird. Am 9. Juni sind Wahlen, und bis der neue Rat Tritt gefasst hat, ist es Ende September, nach den Sommerferien. Wir werden übrigens leider sehr langjährig erfahrene Rätinnen und Räte verlieren, weil sie nicht mehr antreten. Aber wir werden die Zeit nutzen, um den Haushalt grundlegend zu betrachten – nicht wie üblich in einem fünf-Jahres-Zeitraum, sondern mit der Perspektive zehn Jahre. Da wollen wir uns ehrlich machen, welche Projekte wir finanzieren und umsetzen können.

Rechnen Sie mit der AfD im neuen Gemeinderat?

Mag ich mir nicht vorstellen.

Und wenn sie doch in Rat gewählt wird? Wie würden Sie mit der AfD zusammenarbeiten?

Zusammenarbeiten in dem Sinne, dass ich als OB damit leben muss, dass es in meinem Gemeinderat diese Fraktion gibt – das würde ich selbstverständlich tun. Professionell zusammenarbeiten: natürlich. Gemeinsam gestalten: undenkbar.

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Herr Burchardt, wir drehen zum Abschluss den Spieß um. Sie dürfen uns was fragen.

Burchardt: Wie würden Sie in wenigen Sätzen die Entwicklung der Stadt Konstanz in den letzten zehn Jahren beschreiben?

Rau: Konstanz hat sich in der Summe sehr positiv entwickelt und ist eine lebenswerte Stadt geblieben. Die Gesellschaft ist heterogener geworden und gliedert sich immer mehr in einzelne Interessengruppen auf. Es werden mehr Individualinteressen verfolgt, und das gemeinsame Verständnis für so etwas wie das Gemeinwohl nimmt ab. Es gibt Tendenzen zur Polarisierung, Verschwörungsmythen, die Diskreditierung guter Dinge. Und es gibt zunehmend Menschen, die das Gefühl haben, in der eigenen Stadt zu Fremden zu werden. Das macht mir als Bürger und Journalist gleichermaßen Sorgen.

Burchardt: Stimmen Sie zu, dass wir in Konstanz einen großen Zusammenhalt in der Mitte der Gesellschaft haben und als große Gesellschaft in der Mitte beieinanderstehen?

Rau: Ja, aber genau das ist jetzt in Gefahr, und daher kommt das Störgefühl. Die Ränder werden größer und lautstärker. Das konnte man sich lange Zeit hier nicht vorstellen. Aber die Erwartungen ändern sich. Bürger haben heute ein Problem und fühlen sich nicht mitgenommen, wenn die Stadt ihr direktes Lebensumfeld verändert, ohne dass daraus ein echter Nutzen erkennbar wäre.

Burchardt: In kenne die Aussage, dass sich Konstanzerinnen und Konstanzer in der eigenen Stadt fremd fühlen, und ich kenne auch das Gefühl. Manchmal gelingt es mir nicht mehr, das Fahrrad durch die Wessenbergstraße zu schieben, weil da so viele Menschen sind. Ich verstehe, dass Menschen sagen, das ist mir zu voll. Ich weiß aber, die meisten genießen auch die Vorteile dieser Entwicklung, dass wir eine tolle Gastronomie, ein tolles Einzelhandelsangebot, ein tolles Kulturangebot, eine tolle Vielfalt haben. Das hat zwei Seiten. Aber ich sage auch: Wir haben kein Interesse, den Tagestourismus in der Hochsaison auch noch fördern. Darf ich noch was fragen?

Rau: Gerne.

Oberbürgermeister Uli Burchardt im Gespräch mit den SÜDKURIER-Redakteuren Jörg-Peter Rau und Timm Lechler
Oberbürgermeister Uli Burchardt im Gespräch mit den SÜDKURIER-Redakteuren Jörg-Peter Rau und Timm Lechler | Bild: Hanser, Oliver

Burchardt: Was können wir tun, dass die Menschen, die sich heute nicht mehr beteiligen, die nicht mehr wählen gehen, die sich nicht mehr interessieren, wieder näher ans Gemeinwesen kommen? Dass sich mehr eingeladen fühlen, sich einzubringen, mitzugestalten.

Rau: Diese Frage stellen wir Journalisten uns genauso. Wer kein Vertrauen in Institutionen und Teilhabe mehr hat, hat meist auch das Vertrauen in unsere Medien verloren. Zunächst einmal ist es wichtig, dass Politik ihre konkreten Lebensverhältnisse verändern und verbessern kann und dass die Menschen das auch merken. Darin steckt doch eine große Kraft, gerade in einer Stadt. Wer ist es denn, der für die Bürger hier Kindergärten und Strandbäder und Sportplätze und Theater und Radwege hinstellt? Das sind Errungenschaften, über die wir alle öfter und besser reden sollten.

Dann gibt es auch weniger Menschen, die behaupten können, für mich wird doch nie etwas getan. Darum sind Politik und Verwaltung gefordert, ihre Prioritäten dort zu setzen, wo eine Veränderung für viele Menschen erzielt werden kann – und die Menschen in die Frage einzubeziehen, was denn nun eigentlich eine Verbesserung ist. Kürzungen bei Sportvereinen oder bei der Unterstützung von Schulen beim Schwimmunterricht sind deshalb in meinen Augen fatal. Die Hoffnung auf eine solidarische Gesellschaft lebt nach wie vor in vielen Menschen. Aber sie kommt unter Druck, wenn unsolidarisch oder, noch schlimmer, pseudo-solidarisch Einzelinteressen vertreten werden. Dinge also, die in der Lebensrealität vieler Menschen schlicht keine Rolle spielen.

Burchardt: Aber es gibt doch so viele Möglichkeiten, die nicht vom Geldbeutel abhängen. Zum Beispiel: Wie in keiner anderen Stadt an einem See können die Menschen in Konstanz am Wasser sitzen, wir haben den besten und freiesten Uferzugang, den man sich vorstellen kann. Jede und jeder kann sich beim Bäcker ein Brötle und was zu trinken kaufen und noch vor den besten Privatgrundstücken sitzen, picknicken und baden. Das ist doch eine enorme Lebensqualität! Ich habe das Gefühl, dass das vielen Menschen zu wenig nicht bewusst ist.

Rau: Wie bekommt man Menschen dazu, diese angebotene Teilhabe vom freien Uferzugang bis zum Peter-Pan-Ticket im Theater bewusst zu nutzen und sie auch als Aufforderung zu verstehen, sich am Gemeinwesen zu beteiligen? Diese Resignation und die Abkoppelung vom Gemeinwesen finde ich schwierig. Und ich finde es auch schwierig, wenn ein Gemeinderat nur noch 40 Prozent der Wahlberechtigten repräsentiert.

Burchardt: Finde ich auch. Aber ich verstehe es dennoch nicht: Wir haben doch so viele Projekte in den letzten Jahren umgesetzt, die eben nicht auf Eliten abzielen. Der Uferzugang zwischen Fahrradbrücke und Bodenseeforum – da ist doch so viel öffentlicher Raum in hoch attraktiver Lage entstanden. Und das wird ja quer durch alle Generationen angenommen. Auch die ganzen Feste – von der Bodenseewoche, über das Kapellenfest bis zu den Festivals – zähle ich dazu. Was aber nicht deutlich wird: Das ist alles nicht selbstverständlich, sondern etwas, das wir uns als Gesellschaft erarbeitet haben.