Sie hört nicht auf zu reden. Spricht ohne Punkt und Komma. Fährt sich ab und an mit den Fingern durch die graue Mähne auf ihrem Kopf. Kramt aus ihrer Stofftasche dicht beschriebene Blätter und Zeitschriftenartikel hervor. Legt sie zu denen, die bereits vor ihr auf dem Tisch liegen. Oder hält sie in die Höhe, um ihre Ausführungen zu unterstreichen.
Sie, das ist die 76-jährige Angeklagte in einem Verfahren am Konstanzer Landgericht, das bereits über fünf Stunden dauert. Fünf Stunden, in denen die Frau kaum einmal aufgehört hat, zu reden. In denen sie Richter, Staatsanwaltschaft, Zeugen und ihrem eigenen Anwalt ins Wort fiel und andere Prozessbeteiligte teilweise beleidigte oder beschimpfte.
Fünf Stunden, in denen sie immer wieder wirr wirkende Vergleiche oder Verknüpfungen zog. Zwischen ihrem eigenen Leben, ihren Ängsten, ihrem Gefühl, verfolgt zu werden – und Ereignissen der Zeitgeschichte, wie dem Konflikt im Nahen Osten oder dem Wirecard-Skandal. Fünf Stunden, in denen sie über aus ihrer Sicht kriminelle Slawen, Juden, Albaner, Italiener oder von der Mafia geschmierte Politiker referierte.
Auch jetzt, gegen Ende der Verhandlung, scheint ihr Wortschwall keine Grenze zu kennen. Stoppen kann und will der Vorsitzende Richter sie nicht. Denn sie hat das letzte Wort, bevor sich das aus insgesamt drei Richtern und zwei Schöffen bestehende Schwurgericht zur Urteilsfindung zurückzieht. Das durch die Strafprozessordnung vorgegebene „letzte Wort des Angeklagten“ ist beinahe unantastbar. Der Vorsitzende Richter darf es nur in sehr engen Grenzen unterbrechen oder gar entziehen – etwa bei Beleidigungen oder ständigen Wiederholungen.
Nach 45 Minuten schließlich die Erlösung für alle Prozessbeteiligten: Die Angeklagte schweigt und bestätigt auf Nachfrage ihres Anwalts, dass sie ihr letztes Wort beendet hat. Das Gericht kann sich zur Beratung zurückziehen. Das daraus resultierende Urteil ist keine große Überraschung: Das Verfahren gegen die 76-Jährige wird eingestellt, aufgrund der von einem psychiatrischen Gutachter bescheinigten Schuldunfähigkeit der Angeklagten.
Gefangen in einem „System des Wahns“
Der Gutachter hatte erklärt, dass die Frau unter einer isolierten, wahnhaften Störung leide, verbunden mit querulantischen Zügen. Nach der Trennung von ihrem Mann vor rund 30 Jahren hätten sich bei ihr erste Wahngedanken bemerkbar gemacht. Im Laufe der Jahre habe sie mit ihren „paranoiden Einordnungen“ ein „System des Wahns“ geschaffen, so der Gutachter: „In der Regel steht eine Wahnidee im Vordergrund, weitere Ideen werden verknüpft und es entsteht ein System des Wahns.“ Sie sei mehrfach in psychiatrischer Behandlung gewesen. Doch, so der Gutachter: „Krankheitsbedingt besteht bei ihr keine Krankheitseinsicht und dadurch auch keine Behandlungseinsicht.“
Den Antrag der Staatsanwaltschaft, die Frau in einer psychiatrischen Klinik „ohne Bewährung“ unterzubringen und sie zwangsmedikamentös zu behandeln, lehnt das Gericht ab. Anders als der Staatsanwalt sehen die Richter und Schöffen die von der Frau begangenen Straftaten nicht als erheblich genug an, um eine solche Einweisung zu rechtfertigen.
Angeklagt war die 76-Jährige unter anderem wegen Bedrohung und Beleidigung mehrerer Personen in der Region Konstanz. In zwei Fällen soll es auch zu einer Körperverletzung gekommen sein, was jedoch vor Gericht nicht nachgewiesen werden konnte. Eine der Betroffenen, die von der Angeklagten beleidigt und bedroht wurde, ist eine Mitarbeiterin des Konstanzer Landrats Zeno Danner. In deren Büro sei die 76-Jährige in den vergangenen Jahren bereits mehrfach aufgeschlagen – trotz Hausverbots.
Mitarbeiter von Ämtern, Politikern und Klinik bedroht und beleidigt
Teilweise habe sie bis zu zehn Mal am Tag im Landratsamt angerufen. „Sie hat mich mehrfach bedroht, als Schlampe beschimpft“, so die Mitarbeiterin des Landrats, die als Zeugin geladen war. Gemäß weiterer Zeugenaussagen war die Angeklagte in den vergangenen Jahren nicht nur im Landratsamt vorstellig geworden, sondern auch auf verschiedenen Ämtern der Stadt Konstanz und im Wahlkreisbüro des Bundestagsabgeordneten Andreas Jung.
Der Ablauf war laut Zeugenaussagen häufig derselbe: Die 76-Jährige habe von ihren wirren Verfolgungs- und Verschwörungstheorien berichtet, um Hilfe gebeten, aber gleichzeitig auch Vorwürfe gegen Staat, Stadt und Ausländer erhoben – und schließlich verschiedene Mitarbeiter beleidigt oder bedroht. Während eines Aufenthaltes im Reichenauer Zentrum für Psychiatrie (ZfP) soll sie dort Ärztinnen und Pflegerinnen ebenfalls massiv beschimpft haben.
Die ruhelose Tour der 76-Jährigen durch Ämter und Institutionen der Region fand schließlich im Frühjahr 2020 ein abruptes Ende. Mit einem kleinen Hammer, Fäustel genannt, und einem Fleischermesser mit 20-Zentimeter-Klinge in der Tasche machte sie einen Ausflug auf die Insel Reichenau. Dort klingelte sie bei einer Familie an der Tür. Geöffnet wurde ihr nicht, dafür erschien die Polizei.
„Gesellschaft muss solch lästiges Verhalten ertragen“
Die Angeklagte wurde ins ZfP eingewiesen, doch gelang ihr von dort die Flucht über einen Zaun. Nachdem sie erneut festgenommen werden konnte, brachte man sie in eine geschlossene, psychiatrische Klinik im Kreis Reutlingen. Ein Gericht ordnete eine Zwangsmedikation an. Im Herbst vergangenen Jahres wurde die 76-Jährige aus der Klinik entlassen.
„Seither ist die Angeklagte offenbar nicht mehr aufgefallen, auch wenn sich ihr Zustand laut Gutachter verschlechtert“, betonte der Vorsitzende Richter am Landgericht in seiner Urteilsbegründung. Und weiter: „Solange aus unserer Sicht nichts Schlimmeres passiert, muss eine Gesellschaft solch lästiges Verhalten ertragen.“
Eine Unterbringung der 76-Jährigen in einer geschlossenen Psychiatrie sei aufgrund der ihr von der Staatsanwaltschaft zur Last gelegten Taten nicht verhältnismäßig. Für eine solche Anordnung müsste klar sein, dass von der Angeklagten „Straftaten zu erwarten sind, in dem Sinne, dass andere erhebliche psychische oder physische Schäden davontragen.“ Und davon ging der Sachverständige in seinem psychiatrischen Gutachten nicht aus.