„Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich nicht zuletzt daran, wie sie mit den schwächsten Mitgliedern umgeht.“Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl
„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“Artikel 3, Absatz 3, Satz 2, Grundgesetz
„Das Grundgesetz ist kein Geschwätz, sondern gilt!“Verfassungsrichterin Erna Scheffler am 18. Dezember 1953
Jannis Pagels ist ein Tetra. Er ist vom Hals abwärts gelähmt. Tetra ist griechisch und heißt vier: alle vier Gliedmaßen sind gelähmt. Bei einem tragischen Badeunfall in Südfrankreich im Sommer 2019 zog er sich die fatalen Verletzungen zu, die zur Querschnittlähmung führten. Monate verbrachte er in diversen Krankenhäusern, wurde mehrmals operiert, musste essenzielle Dinge wie Schlucken, Atmen und Husten erst wieder lernen.
Als er im Frühling des vergangenen Jahres endlich wieder heim durfte, hatte ein großer Helferpool unbürokratisch und in Eigenregie die Wohnung behindertengerecht umgebaut. „Freunde und Helfer haben geholfen, das Erdgeschoss umzubauen und eine Rampe für den Zugang zur Wohnung zu bauen“, erzählen die Eltern. Zwischenfinanziert wurde das durch Spenden, unter anderem von SÜDKURIER-Lesern.
Der ständige Kampf mit den Behörden
Schon Monate vorher kämpften sich die Eltern durch Anträge und Formulare, damit der Wunsch des Sohnes nach einem selbstbestimmten Leben ermöglicht werden konnte.
Mit den Leistungen des Persönlichen Budgets kann im Arbeitgebermodell diesem Wunsch nachgekommen werden: Der Antragssteller ist gleichzeitig Arbeitgeber und kann mit dem beschiedenen Persönlichen Budget selbstständig Arbeitnehmer für seine Pflege oder Assistenz einstellen.
Ein Ansatz, der ein Höchstmaß an Selbstbestimmtheit verspricht, weg von starren ambulanten Pflegediensten oder der Unterbringung in Einrichtungen. Doch es kam anders. „Der ständige Kampf mit den Behörden um das Geld, was Jannis laut Gesetz ja zusteht, und verspätet gezahlte Leistungen sind ermüdend und halten uns vom Wesentlichen ab“, sagen die Eltern, die nicht glauben wollen, was sie derzeit erleben müssen.
Trotz Antragsstellung tat sich lange Zeit – nichts
Manfred Schneider, Organisator diverser Hilfsaktionen für Jannis und ein Freund der Familie, bringt es auf den Punkt: „Da erlebst du als Familie dieses schlimme Schicksal und bekommst dann auch noch bürokratische Hürden in den Weg gestellt. Unglaublich traurig und unwürdig für unser Land.“
Bereits im Februar 2020 hat Familie Pagels nach eigenen Schilderungen die Anträge nach dem Bundesteilhabegesetz gestellt. Doch es tat sich lange Zeit – nichts.
Jannis Assistenten und ein Aktenvermerk
Laut Rechtsanwalt Holger Kuhnt, der die Interessen von Jannis Pagels vertritt, wurde erst auf Drängen der Familie ein Runder Tisch im Juni einberufen, da bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Entscheidung gefallen war und auch noch keine Zahlungen eingegangen waren. Dabei wohnte Jannis längst daheim.
Nach einem Eilantrag und einem gerichtlichen Vergleich seien im Dezember etwa 50 Prozent der kalkulierten Summe auf Grundlage des Vereins Forsea (Forum selbst bestimmter Assistenz behinderter Menschen) anerkannt worden.

Die Monate September bis November wurden nachgezahlt, mussten aber mittels Spendengeldern vorgestreckt werden. Sonst wäre das Modell schon in den Anfängen gescheitert. Arbeitnehmer hätten nicht bezahlt werden können und das Assistenten-Team von Jannis wäre auseinandergebrochen. Seither werden monatlich lediglich 50 Prozent dieses errechneten Betrags überwiesen.
So reagiert das Landratsamt auf die Vorwürfe
Das Landratsamt reagiert auf SÜDKURIER-Anfrage so auf diesen Vorwurf: „Anträge auf Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX sind hinsichtlich dem Vorliegen der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse seitens des Trägers der Eingliederungshilfe zu prüfen. Hierzu hat der Leistungsberechtigte oder die Sorgeberechtigten alle erforderlichen Nachweise und Unterlagen vorzulegen, die für die Antragsentscheidung erheblich sind. Die Unterlagen werden geprüft und die beantragten Leistungen ggf. gewährt.“
Rechtsanwalt Holger Kuhnt sagt, alle erforderlichen Nachweise seien dem Amt vorgelegt worden. Laut Berechnungen von Forsea stehen Jannis, der seit seinem 18. Geburtstag vor wenigen Wochen selbstständiger Unternehmer in eigener Sache ist, 4,5 Assistentenstellen zu, damit er, wie es der Gesetzgeber vorsieht, am Leben teilhaben kann.
In Summe ergibt das rund 20.000 Euro. Das Landratsamt begründet seine geringeren Zahlungen auf konkrete Anfrage mit diesen allgemeinen Aussagen: „Die Höhe eines persönlichen Budgets bemisst sich nach dem geltend gemachten, individuellen Bedarf des Leistungsberechtigten. Die Leistungsgewährung erfolgt grundsätzlich im angemessenem Umfang.“
Wieso weniger gezahlt wird als von Forsea errechnet, ist für die Familie und den Rechtsanwalt nicht nachvollziehbar.
Landratsamt: „Spendengelder gehören zu den verwertbaren Vermögenswerten“
Für Jannis wurden nach Angaben des Rechtsanwalts Spenden in Höhe von rund 100.000 Euro gesammelt. Jannis hat das Geld jedoch nicht auf seinem Konto, es wird seit Beginn der Spendenaktionen treuhänderisch verwaltet und soll für dringend benötigte Dinge gebraucht werden, die von Versicherungen nicht bezahlt werden, wie zum Beispiel einen besseren Rollstuhl.

Das Landratsamt zu dieser Thematik: „Nach den Bestimmungen des Sozialgesetzbuches ist das gesamte verwertbare Vermögen, soweit es die Vermögensfreigrenze übersteigt, vorrangig zur Bedarfsdeckung einzusetzen. Spendengelder gehören zu den verwertbaren Vermögenswerten.“
Darüber lässt sich nach Rechtsanwalt Kuhnt streiten. „Die Spender haben das Geld gespendet, damit Jannis sich mal etwas leisten kann, was anderweitig nicht finanziert werden kann und nicht, damit das Sozialamt einige Monate weniger zahlen muss. Die Treuhänder müssen überwachen, dass es tatsächlich für diese Zwecke verwendet wird.“
Zahlungen gehen zu spät ein – und Assistenten erhalten Lohn nicht pünktlich
Ein weiteres Ärgernis aus Sicht der Familie: Die Zahlungen an Jannis Ende April wurden schlicht vergessen. Die Eltern: „Die Konsequenzen für uns: Wir konnten Jannis‘ Assistenten nicht fristgerecht ihre Löhne zahlen, Daueraufträge konnten nicht ausgeführt werden – berechtigter Unmut in Jannis Team, und riesen Ärger und Wut bei uns.“
Das Landratsamt schreibt auf SÜDKURIER-Anfrage lediglich diese Worte: „Die Auszahlung von Leistungen erfolgt monatlich im Voraus.“ Und: „Das Landratsamt erbringt die Leistungen der Eingliederungshilfe grundsätzlich vollumfänglich, fristgerecht und unter Beachtung der gesetzlichen Bestimmungen.“
Der Rechtsanwalt jedoch erhielt eine Mail, wonach der Fehler vom Landratsamt eingestanden wurde. Die Auszahlung erfolgte mit einer Woche Verspätung. Von einer Entschuldigung keine Spur. „Langsam drängt sich der Eindruck auf, als könne man hier ein System erkennen“, sagt die Familie.
Der Anwalt sieht bei der Behörde strukturelle Probleme
„Es gibt offensichtlich keine Mechanismen im Landratsamt, die eine schnelle Entscheidung unter Berücksichtigung der Interessen des Betroffenen sicherstellen“, sagt Rechtsanwalt Kuhnt. Aufgrund der Spenden der Eltern könne die Familie Zahlungen eine gewisse Zeit vorstrecken. „Was ist aber mit Familien, die diese Möglichkeiten nicht haben?“
Nach dem Sozialgesetzbuch hat das Landratsamt die Pflicht zu Aufklärung und Beratung von Empfängern von Sozialleistungen. Laut Familie Pagels hat eine Beratung durch das Landratsamt nie stattgefunden. Frage an das Landratsamt: „Wie wird diese Beratung durch Ihre Behörde gewährleistet? Wenn ja, wie und wann?“
Die wenig konkrete Antwort: „Die Verpflichtung zur Beratung hat im Landratsamt oberste Priorität. Schriftliche Anfragen werden grundsätzlich zeitnah beantwortet. Telefonische und persönliche Beratungsgespräche finden regelmäßig statt. An diesen Beratungsgesprächen nehmen der Leistungsberechtigte, die Sorgeberechtigten bzw. rechtliche Betreuer und – auf Wunsch des Leistungsberechtigten – Personen seines Vertrauens teil.“
Familie Pagels erlebt seit fast zwei Jahren einen Albtraum. „Wir dachten, die Zeit im Krankenhaus sei die schlimmste – aber was wir seit dem Nachhausekommen erleben, übertrifft diese Zeit bei Weitem“, sagt die Mutter.