Gegen Mittag kommt die Freundin aus Konstanz zu Besuch in die Tübinger Klinik. Wie an fast jedem Wochenende. In den Schulferien bleibt sie auch mal eine Woche. „Am 10. März sind wir ein Jahr zusammen“, sagt Jannis Pagels sichtlich stolz und glücklich.
Der Tag, der alles veränderte
Seit seinem Unfall am 31. Juli 2019 in Südfrankreich, als er sich bei einem Sprung in eine Welle in Strandnähe den fünften Halswirbel zertrümmerte, ist der 16-Jährige querschnittgelähmt. Ein 24-Stunden-Pflegefall. Für die Freundin kein Grund, andere Wege zu gehen. Ein bemerkenswerte und berührende Tatsache. Jede Woche bekommt er per Post ein Überraschungspaket mit Lebensmitteln. Absender: Freunde und Schulkameraden aus Konstanz. In den dunkelsten Stunden kristallisiert sich wahre Verbundenheit heraus.
Jannis sitzt in einem elektrischen Rollstuhl und empfängt zusammen mit seinen Eltern Manuela und Matthias den SÜDKURIER-Redakteur. Die Drei lächeln, sind gut gelaunt. Die erste Überraschung: Jannis hält dem Journalisten zur Begrüßung die rechte Hand entgegen.

Über die Rotation der Schulter kann er seine Arme leicht anheben oder vor und zurück bewegen. Die mit einer Manschette stabilisierten Finger und die Hand jedoch bleiben regungslos. Ihre Bewegungen werden über den Trizeps gesteuert, genau wie das Strecken und Beugen der Arme. Jannis Trizepse aber sind gelähmt.
Besserung ist möglich, aber ungewiss
„Es kann sein, dass sich irgendwann eine Besserung einstellt“, sagt Vater Matthias. „Man kann nicht vorhersagen, was in Zukunft passiert.“ Mutter Manuela drückt es so aus: „Jede Querschnittlähmung ist anders.“
Die Station der Berufsgenossenschaftlichen Klinik Tübingen, in der der Konstanzer Teenager derzeit lebt und seine Akut-Reha absolviert, heißt Q. „Das Q steht für querschnittgelähmt“, erklärt Manuela Pagels. Da weiß man sofort, wo man ist. Wer hier liegt, hat ein tragisches Schicksal zu stemmen und blickte dem Tod in die Augen. „Mein Bettnachbar ist ebenfalls 16 Jahre alt. Er hatte einen Mofa-Unfall“, erzählt Jannis Pagels. Hier sind alle gleich, die Patienten eint der Querschnitt. „Ja“, sagt er lächelnd. „Wir sind ein verschworener Haufen. Alter spielt bei uns keine Rolle.“
Während des bewegenden Gesprächs über das neue Leben der Familie kommen immer wieder andere Patienten vorbei. Im Rollstuhl sitzen sie alle. Nur in einem unterscheiden sie sich: Die einen werden als Tetras bezeichnet, die anderen als Paras.
Tetras und Paras
Das bezieht sich auf die betroffenen Gliedmaßen: Bei Verletzungen in Höhe der Lendenwirbelsäule sind lediglich Beine, Beckenorgane und Rumpf betroffen – man spricht von einer Parese, einer inkompletten Lähmung.
Bei einer Schädigung des Rückenmarks im Halswirbelbereich kommt es bei einer Tetraparese zur Beeinträchtigung aller vier Gliedmaßen; tetra ist griechisch und bedeutet vier. Verletzungen des vierten oder fünften Halswirbels sind so gravierend, dass der gesamte Körper vom Hals an abwärts komplett oder teilweise gelähmt ist. Jannis ist ein Tetra.

Nach der Not-Operation in Bordeaux kam Jannis nach Tübingen. Seit Ende August lebt er in Zimmer Q 1.079. Derzeit fühlt er sich hier wohl und sicher – auch wenn er Konstanz und seine Freunde sehr vermisst. „Ich habe großen Respekt vor der Welt da draußen“, sagt er schließlich und blickt durch das Fenster. „Mit meinen Betreuern gehe ich gerne ins Kino oder in die Stadt nach Tübingen.“
Sehnsucht nach Konstanz, aber auch Respekt vor dem neuen Leben
Die Betreuer. Sie haben jahrelange Erfahrung mit Menschen in Rollstühlen. Sie wissen, was sie machen müssen, wenn es dem jungen Menschen plötzlich schlecht gehen sollte. Sie sind seine Versicherung in Notfällen. Im April wird Jannis Pagels entlassen, dann geht‘s zurück an den Bodensee. „Ich vermisse mein Leben dort. Ich sehne mich danach. Ja, schon“, sagt er. Ein Rest an Ungewissheit bleibt. Das ist der Stimme anzuhören.

Ungewissheit, wie sein Leben sein wird, wenn er alleine mit seiner Familie lebt. „Er ist noch keine 18“, erklärt Manuela Pagels. „Also sind wir als Eltern in der Pflicht. Wir wissen noch gar nicht, was wir alles benötigen.“ Derzeit lebe er noch in einer beschützten Glocke, wie es Matthias Pagels ausdrückt. Mittelfristig benötigt er einen Pfleger, im Idealfall rund um die Uhr.
Heilig Abend daheim
An Heiligabend durfte Jannis das erste Mal wieder nach Hause. „Die ersten Stunden waren wunderschön“, erzählt die Mutter. „Doch dann bekam er 41 Grad Fieber und musste sich übergeben.“ Zurück in Tübingen, diagnostizierten die Ärzte eine Harnwegsinfektion.
„Diese typischen Infektionen machen größere Probleme als die Querschnittlähmung“, sagt Manuela Pagels. Jannis wird kathetert, er lernt, seinen Harndrang anhand der getrunkenen Flüssigkeit und vergangener Zeit einzuschätzen. Wenn das Timing mal nicht stimmt, kann es zu Infektionen kommen.

Der ursprüngliche Plan, das Mietshaus im Stadtteil Paradies umzubauen, ist nicht umsetzbar. Nun ist die Familie auf der Suche nach einer kurzfristigen Lösung, einem provisorischen Umbau, der wieder rückbaubar ist.

„Es ist unglaublich, wie viele Menschen uns helfen wollen“, erzählt Matthias Pagels. „Schreiner, Maurer, Architekten – sogar die Gewerbe-Akademie in Singen bietet Unterstützung an. Dazu die vielen Aktionen in Konstanz, rund um den Bodensee, ja in ganz Süddeutschland. Wir sind den Menschen so dankbar. Das konnten wir bisher noch gar nicht zum Ausdruck bringen. Dazu waren wir noch nicht in der Lage.“
Ermüdende Diskussionen und Briefwechsel mit den Versicherungen
Mehrere hunderttausend Euro Kosten werden auf die Familie zukommen, bis Jannis ein Rollstuhl geeignetes Leben führen kann. Die Versicherung zahlt bei Weitem nicht alles, bereits heute verlieren die Eltern viel Kraft in endlosen Diskussionen und ermüdenden Schriftwechseln. Rund 100.000 Euro wurden bisher gespendet.

Als im Herbst und vor Weihnachten ganze Spieltage, Turniere oder andere Anlässe zu Benefizveranstaltungen für Jannis Pagels wurden, war die Familie emotional tief berührt. „Es zog mir den Boden unter den Füßen weg“, erinnert sich Matthias Pagels rückblickend.
„Jannis ist der Stärkste von uns“
Er saß am Oktober an Jannis‚ Bett und schaute sich das Spiel der HSG Konstanz gegen Emsdetten live im Internet an. Als bei einer Spielunterbrechung HSG-Funktionäre am Hallenmikrofon über Jannis sprachen und zur Spende aufriefen, brach er in Tränen aus. „Jannis ist der Stärkste von uns“, erzählt die Mutter lächelnd. „Er fordert uns dann immer auf, nicht so herumzuheulen. Er ist so stark.“ Die Momente, in denen er der Verzweiflung nahe ist und ans Aufgeben denkt, werden immer seltener. Jannis Pagels nimmt die Querschnittlähmung an und kämpft. Er macht seinem Schicksal Beine.