Es gibt Schicksale, bei denen fehlen Außenstehenden die Worte. Schicksale, die das tiefste Innere berühren, die ein Gefühl von großer Traurigkeit hinterlassen. Und Bestürzung – wie bei der Geschichte des Jannis Pagels; Bestürzung, dass einem jungen Menschen so etwas passieren musste. Ein lebensfroher 16-Jähriger, Sportskanone, beliebter Handballer und Basketballer. Ein lieber Sohn und Bruder. Ein treuer Freund. An der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein. Das ganze Leben vor sich. Das hat er immer noch. Aber anders als geplant.

Der Tag, der alles verändern sollte

Es ist Sommer. Jannis Pagels freut sich auf die Ferien. Das erste Mal alleine mit einem Freund unterwegs. Surf-Camp an der südfranzösischen Atlantikküste. Er will das Wellenreiten, das ihn so sehr fasziniert, noch besser erlernen. Der 31. Juli, ein Mittwoch, markiert den Tag, nach dem nichts mehr so sein wird wie zuvor. Der Surflehrer steht im hüfthohen Wasser, gibt Anweisungen für die Aufwärmübung. Die Schüler sollen vom Strand ins Wasser laufen, bei jedem Schritt die Knie nach oben ziehen und so den Lehrer umkreisen.

Ein Unfall, wie er jedem passieren kann

Jannis ist an der Reihe. Als er im Wasser eine Welle auf sich zukommen sieht, beschließt er, in sie hineinzuspringen und hindurchzutauchen. So, wie es Tausende an den Stränden dieser Welt Tag für Tag machen. „Er weiß nicht mehr, ob die Wucht der Welle seinen Kopf zur Seite geschleudert hat oder ob er dadurch auf den Grund gedrückt wurde“, schildert Vater Matthias Pagels. „Er kam wieder zu sich, als er mit dem Kopf nach unten bewegungslos im Wasser trieb.“ Der Trainer bringt ihn sofort an Land. Ein Rettungshubschrauber fliegt Jannis ins Krankenhaus nach Bordeaux. Das Martyrium nimmt seinen erbarmungslosen Lauf.

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Die Eltern erhalten eine SMS, sie sollen sich wegen Jannis bitte sofort melden. „Da wusste ich sofort, dass etwas passiert sein musste“, erinnert sich seine Mutter Manuela Pagels an diesen Moment. „Ansonsten hätte er sich persönlich gemeldet. Als Mutter spürst du das.“ Sie erfahren von dem Unfall beim Aufwärmen, der Sohn habe sich schwer verletzt und sei auf dem Weg ins Krankenhaus. Sie buchen den nächsten Flieger nach Bourdeaux. Noch auf dem Weg zum Flughafen erreicht sie ein Anruf des zuständigen Arztes in Frankreich, der um eine Einverständniserklärung bittet, da er Jannis zur Entlastung des gequetschten Rückenmarks sofort operieren müsse.

Die Schockdiagnose: Genickbruch

Später erfahren die Eltern in Bordeaux, dass ihr Sohn sich das Genick gebrochen habe. „Für uns war ein Genickbruch immer gleich bedeutend mit dem Tod“, sagen die Eltern, „das mussten wir erst einmal verkraften und verarbeiten.“ Jannis werden Platten eingesetzt, um die Wirbel zu stabilisieren. Sein fünfter Halswirbel war zertrümmert. Das bedeutet, dass der Körper vom Hals abwärts gelähmt ist. Eine Heilung ist nicht möglich, maximal eine Besserung.

Jannis muss grundlegende Dinge erneut lernen

Nach fünf Tagen wird er in die Uni-Klinik nach Tübingen verlegt und künstlich beatmet. Der 16-Jährige muss grundlegende Dinge wie Schlucken, Atmen und Husten wieder erlernen. In der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik beginnt schließlich die Akut-Reha, die er derzeit absolviert und die mindestens sechs Monate dauern wird.

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„Er macht kleine Fortschritte“, erzählt Mutter Manuela. „Das macht uns Mut.“ So könne er sich mittlerweile selbstständig mit einem elektronischen Rollstuhl auf dem Klinikgelände fahren. „Da er in der Lage ist, seinen linken Arm nach vorne und hinten zu bewegen, kann er den Rollstuhl wie mit einem Joystick lenken“, berichtet Matthias Pagels. Alle vier Stunden muss er bewegt werden, damit sich kein Druckgeschwüre bilden.

„Jannis ist großartig. So positiv.“

Die Eltern bewundern ihren Sohn, der sein Schicksal tapfer annehme und kämpfe. „Er ist großartig. Er ist so positiv“, sagt der Vater. Wenn die Eltern entkräftet ihre Tränen nicht verbergen können, baut sie die Haltung des Sohnes wieder auf. „Jannis hat so viel Kraft. Das ist bewundernswert.“

Niemand kann sagen, wie es weiter geht. Im Optimalfall kann Jannis irgendwann seine Arme wieder bewegen, daran arbeiten Therapeuten, Ärzte und Patient täglich. „Derzeit werden Nervenbahnen gesucht, die noch in der Lage sind, Signale zu senden und zu empfangen.“ Alle sechs Wochen treffen sich die behandelnden Personen, ziehen ein Fazit. Nur Prognosen, die möchte keiner abgeben. „Die Ärzte wissen, dass Patienten und Familienangehörige extrem sensibel auf solche Aussagen reagieren würden“, so Matthias Pagels. „Falsche Hoffnungen möchte niemand wecken.“

Die Mutter lebt auf dem Klinik-Gelände im McDonald-Haus

Manuela Pagels lebt derzeit im Ronald-McDonald-Haus auf dem Klinikgelände. Eltern von minderjährigen Patienten können hier in Wohngemeinschaften kostenfrei wohnen, finanziert wird das von der Ronald-McDonald-Stiftung und den Krankenkassen. „Das ist eine wundervolle Einrichtung“, sagt Matthias Pagels. „Man redet miteinander, tauscht sich mit Leidensgenossen aus, kommt auf andere Gedanken.“ Ehrenamtliche investieren viel Zeit und Liebe, damit Eltern und Kinder ein kein wenig abgelenkt sind.

2018 verunglückte die Tochter – ebenfalls in Südfrankreich

Der Vater ist bei der 13-jährigen Tochter in Konstanz. Er hat gerade eben erst einen neuen Job begonnen. „Wir sind alle noch in einem Ausnahmezustand und in einer Findungsphase“, sagt er. 2019 sollte das Jahr des Neuanfangs werden.

Die Tochter hatte 2018 ebenfalls einen schweren Unfall, wurde mehrmals operiert. Ebenfalls in Südfrankreich. Ihre Not-OP fand im gleichen Krankenhaus in Bordeaux statt, in dem auch Jannis erstversorgt wurde. Ein schreckliches Déjà-vu für alle Beteiligten. „Die Frage, warum uns das alles passiert ist, stellen wir uns lieber nicht“, sagt Manuela Pagels. „Das würde uns nur zermürben und darauf gibt es auch keine Antwort.“

Große Hilfsbereitschaft in ganz Konstanz

Die Handballer der HSG Konstanz haben sich für eine emotionale Botschaft an Jannis Pagels zusammen gestellt. Sie rufen Mitmenschen auf, ...
Die Handballer der HSG Konstanz haben sich für eine emotionale Botschaft an Jannis Pagels zusammen gestellt. Sie rufen Mitmenschen auf, für den 16-Jährigen zu spenden, damit sein Leben so angenehm wie möglich wird. | Bild: Andreas Joas

Die Familie muss in jeder Hinsicht wieder bei Null starten: Kann das angemietete Haus im Paradies behindertengerecht umgebaut oder muss nach neuem geeignetem Wohnraum gesucht werden? Muss ein neues Auto angeschafft werden? Sicher ist: Jannis wird intensive Pflege benötigen, ein speziell ausgebildeter Assistenzhund kann ihm das tägliche Leben erleichtern – nur ein paar der Dinge, die es zu organisieren gilt. „Wir wissen noch gar nicht, was alles auf uns zukommen wird“, sagen die Eltern.

Die Familie muss vieles selbst bezahlen

Versicherungen übernehmen einige Kosten – aber bei weitem nicht alle. Freunde haben Spendenaktionen ins Leben gerufen, auch der Rotary Club Konstanz-Mainau und die Handballer der HSG Konstanz organisieren Aktionen. „Es tut so gut, wenn man Unterstützung erhält“, sagt die Mutter. „Es geht ja auch darum zu spüren, dass man nicht alleine ist.“ Jannis Schicksal berührt die Herzen. Wie die Familie kämpft und damit umgeht ebenfalls. Die Hilfsbereitschaft ist für die Pagels ein Licht in der Dunkelheit. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.