Naomi: „Das ganze Leben wurde auf einmal angehalten“

„Wir wussten: Irgendwo auf der Welt gibt es Corona. Es schien alles so weit weg. Dass es solche Ausmaße annehme würde, hätte wohl keiner gedacht. Es war als würde ein Schalter umgelegt. Wie auf Pause, auf Stopp-Taste gedrückt. Das ganze Leben wurde auf einmal angehalten“, schildert Naomi (18), wie sie den Beginn der Pandemie erlebt hat.

Langsam genervt von der Isolation (Naomi).
Langsam genervt von der Isolation (Naomi). | Bild: Scherrer, Aurelia

Naomi zählt zu der Gruppe Jugendlicher, die an dem Filmprojekt teilgenommen hat, welches das Jugendzentrum der Stadt Konstanz im vergangenen Jahr mit Unterstützung von Hope Human Rights e.V. und der Tanzschule Dance 4 You unter Einhaltung der Corona-Auflagen möglich gemacht hat.

Entstanden ist der Kurzfilm „Social distance – we have to stick together“(der auf YouTube zu sehen ist), der mit Mitteln des Tanztheaters Einblick gibt, wie sich Jugendliche in Zeiten der Pandemie fühlen.

Karla: „Ich will nicht schuld an ihrem Tod sein“

„Es war unvorstellbar. So viele Menschen auf der Welt, die gestorben sind“, bringt es Una (16) auf den Punkt und meint: „Irgendwann konnte und wollte ich keine Nachrichten mehr sehen. Es ist wie ein ganz schlechter Traum“, meint sie. Mila (17) fügt an: „Irgendwie surreal.“

Sie wissen um die Verantwortung, die auch sie tragen; die Verantwortung für ein Menschenleben. Besuch der Großeltern kam überhaupt nicht mehr in Frage. „Ich habe viel zu viel Angst, sie anzustecken. Ich will nicht schuld an ihrem Tod sein“, sagt Karla (16).

Unsicherheit und Verärgerung (Karla).
Unsicherheit und Verärgerung (Karla). | Bild: Scherrer, Aurelia

„Meine Schwester hat eine Behinderung. Ihr Immunsystem ist intakt, im Gegensatz zu vielen anderen ihrer Schulkameraden. Und ich habe total Schiss, dass sie das Virus mit in die Schule bringt“, sagt Anna (17).

„Man weiß, man hat die Verantwortung für die Menschen um einen herum“, so Naomi. „Die Verantwortung für ein Menschenleben“, sagt Una und Mila stellt fest: „Das ist eine große Last, die wir noch nicht so gut tragen können. Wir sind noch so frisch in dieser Welt.“

Mila: „Da hat uns ein Rentner angebrüllt und beschimpft“

Die meisten Jugendlichen seien sich der Verantwortung bewusst und würden sich an die Regeln und Auflagen halten. Womit sie nicht klarkommen ist, dass sie von vielen als Virenschleudern und als verantwortungslos hingestellt würden. Mila geht eine Szene noch nach. „Während des ersten Lockdowns war ich mit einem befreundeten Geschwisterpaar Joggen. Da hat uns ein Rentner angebrüllt und beschimpft.“

Dabei hatten sie nichts Unrechtes getan. „Wir sind doch solidarisch. Wir sind doch alle im selben Sturm. Nein, nicht in einem Boot, denn jeder hat andere Möglichkeiten und andere Nöte“, philosophiert sie und bringt damit auch die Hilflosigkeit, die diese Ausnahmesituation in sich birgt, zum Ausdruck.

Ausbruch aus der Isolation (Mila).
Ausbruch aus der Isolation (Mila). | Bild: Scherrer, Aurelia

Was ebenfalls schwer auf den Seelen vieler Jugendlicher liegt: „Wir werden auf Lernende reduziert“, bemängeln sie unisono. „Unsere Generation: Wir müssen immer 100 Prozent funktionieren und die Kontrolle haben“, verbalisiert Naomi das Lebensgefühl der Jugendlichen.

Alle Gesprächspartnerinnen berichten davon, wie sehr sie die ersten Wochen des ersten Lockdowns doch auch genossen haben. Sie hätten endlich einmal Zeit für sich gehabt.

Anna: „Die meisten Schulen waren überfordert“

„Es hat gutgetan, einmal kreativ sein zu können. Die meisten Schulen waren überfordert mit dem Online-Unterricht, so dass wir weniger Schule und mehr Zeit für uns gehabt haben. Und am Allerwichtigsten: Wir haben gewusst: Man verpasst nichts, man kann sich auf sich selbst konzentrieren“, schildert Anna.

Endlich habe man Zeit gehabt, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, sich zu hinterfragen, Wünsche und Ziele zu reflektieren. Und bewusst wurde ihnen, wie sehr sie zuvor im Hamsterrad waren.

Gelangweilt auf das Ende des Lockdowns wartend (Anna).
Gelangweilt auf das Ende des Lockdowns wartend (Anna). | Bild: Scherrer, Aurelia

„Der soziale Druck... Du musst immer funktionieren, musst perfekt sein“, meint Karla über das Lebensgefühl der Jugendlichen. Und Anna fügt an: „Sonst musst du immer die Kontrolle und mindestens einen Plan bis 2035 haben. Ich versuche das zwar auszublenden. Aber man hat normalerweise nicht die Kraft, aus dem System auszubrechen.“

In der Pandemie aber „hatte niemand die Kontrolle über irgendwas“, so Anna. Ist das nicht beängstigend? „Kontrollverlust ist immer beängstigend“, stellt Naomi fest. Aber diese Ausnahmesituation habe gezeigt: „Wir sind alles nur Menschen und können nicht alles im Griff haben.“

Una: „Es ist wie ein Marathon, aber man sieht das Ziel nicht“

Der lange andauernde zweite Lockdown macht auch der Jugend zu schaffen und die Sehnsucht nach einem annähernd normalen Alltag und vor allem nach sozialen Live-Kontakten wächst von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. „Jetzt ist die Luft raus“, stellt Anna fest und Una ergänzt: „Es ist wie ein Marathon, aber man sieht das Ziel nicht.“

Träumen und hoffen, dass die Pandemie bald vorbei ist (Una).
Träumen und hoffen, dass die Pandemie bald vorbei ist (Una). | Bild: Scherrer, Aurelia

Die Jugendlichen wollen wieder raus aus der Isolation, denn jeden Tag komme die Zimmerdecke ein Stückchen näher. Aber sie denken über den Tellerrand. Anna hat eine tolle Familie, „aber es gibt Leute, denen es schlechter geht, da gibt es häusliche Gewalt“.

Naomi denkt an Händler und Unternehmer, „die ihre Existenz verlieren, und die Leute, die in Kurzarbeit sind und jetzt noch weniger Geld verdienen.“ Sie konkludiert: „Die Bandbreite derer, denen es nicht so gut geht wie uns, ist groß.“

Und die Jugendlichen fragen sich, wo all das hinführen wird. Wird ein normales Leben wieder möglich sein? Una spricht ihre Sorgen offen aus: „Ich habe Angst davor, dass die Menschlichkeit verloren geht, weil man Angst vor anderen Menschen hat.“

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