Am Längerbohl fällt eine Wohnanlage sofort auf. „Was für eine Platzverschwendung!“ Das möchte man ausrufen angesichts dieser Bauweise: Allein an der Längerbohlstraße reihen sich 30 Garagen aneinander, alle noch mit schön viel Fläche davor. Da würde man heutzutage sicher mehrgeschossige Mehrfamilienhäuser draufstellen und darunter eine Tiefgarage packen. Aber Anfang der 1970er Jahre musste man auf so etwas (noch) nicht achten.

Dahinter dann die dazugehörigen Häuser, eine Bungalowsiedlung, die auf dem Hang hinunter zum Pettenkoferweg liegt. Einstöckige Bebauung in L-Form, im Inneren jeweils ein großzügiges Atrium. Die Siedlung hat hier Platz bekommen. In die Breite statt in die Höhe, anders als nur wenige Meter weiter, wo die Hochhäuser am Buhlenweg und an der Schwaketenstraße Hunderte von Menschen beherbergen. Übereinander, nicht nebeneinander.
Historisches zum Längerbohl-Quartier
Die Straßen dazwischen sind nach deutschen Astronomen und Mathematikern benannt: Gauß, Kepler, Kopernikus. In einer davon wohnt ein Fastnachter. Was schon daran zu erkennen ist, dass eine Niederburg-Fahne an der Hauswand flattert und auf der Kühlerhaube des Autos eine Magnetscheibe mit dem Niederburgwappen anhaftet.

Und immer am 11.11. kommt die Fahne raus, über Weihnachten noch mal weg und ab 6. Januar bis Aschermittwoch wieder hin. Genauso der Schmuck am Auto. „Wenn die Leute dann denken, der spinnt doch, dann finde ich das gar nicht so schlecht.“ Denn man solle nicht alles zu ernst nehmen – passendes Lebensmotto für einen Narren, der seinem Verein auf ewig verbunden bleiben wird.
Das Haus, von den Eltern gekauft, bewohnt er seit 2014. „Von außen, sind wir mal ehrlich, sehen diese Flachdachhäuser schon aus wie Schuhschachteln.“ Aber innen, so Ellegast, seien sie angenehm. Vielleicht der Wohnbereich etwas zu groß geraten – dafür ein Zimmer mehr, das wäre schön gewesen. „Aber um Gäste zu bewirten natürlich großartig!“
120 Quadratmeter auf einer Ebene, 440 Meter Grundstücksgröße, der ummauerte Innenhof, in den niemand reinsehen kann. „Außer die Fahrgäste des Zeppelins!“ Ellegast vermutet – natürlich nur im Spaß –, dass die ihre Fahrtroute gerne mal dadrüber führen, „um zu schauen, ob da jemand im Sommer oben ohne in der Sonne liegt“.
Mit kleinen Kindern jedenfalls ist dieser innenliegende Garten optimal. „Für die konnte man die Terrassentür aufmachen, ohne sich Sorgen machen zu müssen.“ Tochter Lea, 17, bestätigt, dass man auch draußen vor der Tür gut spielen konnte. „Da war ja so gut wie kein Verkehr.“ Also Platz, um Wasserschlachten zu veranstalten und den ganzen Weg mit Kreide zu bemalen. Was sie als Kind mit Freunden ausgiebig tat.
Familien mit jüngeren Kindern sind in der Siedlung nicht viele zu finden. Ein großes Trampolin im Vorgarten eines Bungalows weist zumindest darauf hin, dass man hier fündig werden könnte. Aber die Familie will nichts über sich in der Zeitung stehen haben, genauso wie ein älteres Ehepaar, das erst freundlich das Haus zeigt, Interessantes über die Entstehung der Häuser zu erzählen weiß, aber dann doch zurückzieht.
Dass Anfang der 70er Jahre die Rehe bis vors Haus kamen, dass auf den Wegen die Kinder im Winter rodelten, dass die Baufirma, die die ersten sechs Atriumhäuser errichtete, bald danach pleite gegangen sei – das kann dann doch stehenbleiben. Dass man hier sehr ruhig wohnt, eine gute Busanbindung (Linien 2 und 12) hat, Geschäfte in Wollmatingen gut zu Fuß erreichbar sind und die Natur mit dem Schwaketenwald nicht weit ist – auch das. Weil es unabhängig von persönlicher Geschichte stimmt.
Doch zum Glück öffnet sich noch eine weitere Tür. An der Ecke Keplerweg/Pettenkoferweg steht das Haus der Eltern von Michael Mutter, das sie 2002 gekauft haben. Das Eckgrundstück nebenan ist seit 50 Jahren unbebaut. Mutter erwarb und bezog die Einliegerwohnung im Untergeschoss. „Da hatten die ersten Besitzer noch ein Schwimmbad geplant“, erzählt er. Das sie aber – wohl aus Geldmangel – nicht weiter ausbauten. Die zweiten Besitzer hätten da einen Deckel draufgemacht und eine Zwischendecke eingezogen.

Und vor der Tür eine Rampe gebaut, da die Besitzerin im Rollstuhl saß. In dem auch Michael Mutter seit 2012 sitzt. Er leidet an der Krankheit Spinale Muskelathropie, die auch sein Bruder Eric schon von Kindesbeinen an hatte. Mutter weiß, seit er 15 ist, von seiner Diagnose, der Muskelschwund ist unheilbar und letztlich nicht aufzuhalten. Aber er konnte zunächst noch voll arbeiten. „Was ich auch tat, um meinen Rentenanspruch auf ein möglichst hohes Niveau zu heben.“ Denn irgendwann, das war ihm klar, würde das Arbeiten nicht mehr gehen.
Der Zeitpunkt kam früher als erwartet, ein Sturz, eine komplizierte Knie-OP, ein „Totalschaden“, wie er es nennt, der ihn vorzeitig in den Rollstuhl und in die Rente zwang. Schon vorher war im Haus an der Treppe ein Plattformlift eingebaut worden. So konnte sein Bruder zu ihm hinunter. Und er später dann auch hinauf.
Eric starb 2017 mit 45 Jahren. Zwei Jahre später folgte ihm seine Mutter, um die sich Michael Mutter, selbst schon pflegebedürftig, kümmerte. Nach ihrem Tod habe er sich in den Einrichtungen in Konstanz, die ein betreutes Wohnen anbieten, umgeschaut, doch letztlich entschieden: „Ich will hier wohnen bleiben!“

Behindertengerecht ist das ebenerdige L mit der Rampe vor der Tür ja schon lange. Michael Mutter zahlte seine beiden Brüder aus, übernahm das Haus und richtete sich als „Alleinunterhalter“ ein: Zweimal am Tag kommt der Pflegedienst der Caritas, das Mittagessen bringen die Malteser, die auch kommen, wenn er einen Fahrdienst benötigt.
Und selbst einkaufen? „Wie soll das gehen?“ Also wird auch das besorgt. Wenn er an irgendetwas im Haus nicht heranreicht, dann ruft er die Nachbarn an. „Die helfen immer!“ Die Ruhe in der Siedlung genieße er, abends ab sieben sei nichts mehr zu hören. „Das Lauteste waren die Feuerwehrsirenen, als das Schwaketenbad abbrannte.“ Ab und zu sehe er einen Fuchs ungestört durch die Straße spazieren.
Als Risikopatient habe er sich während Corona hier bisher gut einrichten und abschirmen können, sagt Mutter. „Ich konnte ja immer in mein Atrium hinaus ins Freie.“ In seinem Haus zur ebenen Erde.