Freitag, 20. März, 9.40 Uhr auf dem Waldfriedhof: Todestag der Mutter. Kann man zur richtigen Zeit sterben? Vor drei Jahren war es kein Problem, noch am Vorabend schnell im Heilig-Geist-Hospital vorbei zu schauen und wenigstens kurz die Hand zu halten. Hätte die Mutter dafür Verständnis gehabt, dass das gerade nicht so einfach geht? Eher nicht, sagt die Schwester auf der anderen Seite des Grabs. Auf dem Friedhof auf diese Distanz zu gehen, wirkt seltsam. Aber wie bitter mag es für Angehörige sein, die in diesen Tagen auf Besuche in den Pflegeheimen verzichten müssen. Kein Treffen, keine Hand zum Halten. Die Sicherheit der Bewohner und Pfleger geht vor. Wer die Fernsehbilder aus Italien sieht, weiß: Kontakt vermeiden, Abstand halten, das ist die einzige Chance.
Freitag, 20. März, 13.15 Uhr in der Unterführung: Wenn der Seehas die Pendler ausspuckt, dann ist die schönste Bahnhofsunterführung, die Radolfzell hat, etwas eng, um auf die nötige Distanz zu gehen. Wenn vier Menschen im Zug beieinander sitzen, steigen sie zusammen aus und gehen nebeneinander her. Durch eine Unterführung mit vier Meter Breite. Macht bei einer durchschnittlichen Schulterbreite von 40 Zentimetern mal vier Personen gerade noch eine aufteilbare Distanz von 240 Zentimetern. Bleiben 60 Zentimeter Distanz für alle vier, wenn einer an der Wand entlang kratzt. Unsere Empfehlung: Versetzt Gehen – und Vorsicht, nicht über die Balalaika stolpern.
Freitag, 20. März, 14.20 Uhr auf dem Marktplatz: Vor dem Pfarrhaus winkt Stadtpfarrer Heinz Vogel, er wartet auf die Botin der Buchhandlung am Obertor. „Man muss den heimischen Handel unterstützen“, sagt Vogel. Ein Buch hat ihm gerade gefehlt, es heißt „Wir erzählen die Bibel“. Vogel hat vier Exemplare bestellt, damit es auch seine Mitarbeiter in der Jugendarbeit begutachten können. „Und eines verschenke ich.“ Die Übergabe klappt einwandfrei mit je einer Armlänge auf Entfernung, macht insgesamt etwa 1,50 Meter Distanz.
Freitag, 20. März, 17.59 Uhr in der Redaktion: Die E-Mail von Schiesser zur Kurzarbeit trifft ein. Alles mies? Am Tag zuvor hat Zukunftsforscher Matthias Horx seine Sicht auf das Dasein nach der Corona-Krise kundgetan: „Die kommende Welt wird Distanz wieder schätzen – und gerade dadurch Verbundenheit qualitativer gestalten. Autonomie und Abhängigkeit, Öffnung und Schließung, werden neu ausbalanciert. Dadurch kann die Welt komplexer, zugleich aber auch stabiler werden.“ Schön wär‘s.
Die Kolumne: Das Corona-Tagebuch der Redaktion Radolfzell begreift sich als hoffentlich vorübergehende Erscheinung.