Aus den bleiernen Tagen jenes Frühlings haben sich nur wenige Szenen in das Bewusstsein der Geschwister von heute hinübergerettet. Elisabeth, oder kurz Lisa, war die kleine Schwester von Klaus Liebsch. Was heißt „kleine“, sie war gerade 16 Monate jünger als ihr großer Bruder Klaus. Und sie war als 14-Jährige dabei, bei jener Aktion in Radolfzell am Palmsamstag 1972, als die Pfadfinder Altkleider sammelten. „Auch ich saß auf einem Unimog der Franzosen.“ Pfadfinderinnen waren damals noch die Ausnahme, aber weil Vater Friedrich Liebsch Stammesleiter war und ihr Bruder Klaus als Pfadfinder sowieso mit anpackte, wollte sie helfen. Und sie durfte.

Maria schließt sich ein und spielt Geige

„Dann habe ich mitbekommen, dass was passiert ist“, sagt Lisa Schieder heute, fünfzig Jahre später. Was das war, was da passiert sei, habe sie gar nicht begreifen können. „Irgendjemand hat mich dann heimgefahren.“ Und unterwegs hätten sie dann noch die große Schwester Maria entdeckt und mitgenommen, die auf dem Heimweg vom Markt war. Die große Schwester war zwei Jahre älter als Klaus und stand kurz vor dem Abitur. Da erinnert sich die kleine Schwester an die Flucht der großen: „Maria hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und Geige gespielt.“

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Die Geige. Im katholisch geprägten Haus Enz und Liebsch war in der Karwoche Musik nicht erlaubt. 1972 schon. „Da haben sie nichts gesagt“, sagt Lisa Schieder über die Großen in der Familie: Vater, Mutter, Oma, die Onkel. Der Klang der Geige machte den Schmerz, die Klage und die Trauer hörbar. Die große Schwester Maria sagt heute: „Das war eine echte Karwoche.“ Als Medizinerin unterrichtet Maria Schmitt an der Fachschule für Pflegeberufe der Caritas in Donaueschingen. Sie zieht einen Vergleich: „Heute kümmern sich nach solchen Unfällen Notfallseelsorger oder ein psychologischen Notdienst um die Angehörigen, das gab es damals nicht.“

Die Schwestern von Klaus Liebsch: Maria Schmitt (l.) und Lisa Schieder.
Die Schwestern von Klaus Liebsch: Maria Schmitt (l.) und Lisa Schieder. | Bild: Becker, Georg

An die Beerdigung haben die Schwestern nur vage Erinnerungen. Etwa, dass viele Menschen auf dem Friedhof waren, sagt Lisa. Wie bei der Beerdigung von Opa Franz Enz Jahre zuvor. „Ich fand das als Kind unheimlich bewegend, und habe mir überlegt, was das für ein Mann gewesen sein muss“, erinnert sich Maria. Klaus starb früh, kurz vor seinem 16. Geburtstag. Der Zugang und die Erinnerungen zu diesem Ereignis erscheinen heute für Lisa und Maria versperrt, vor vielem sei ein Vorhang heruntergegangen. Vielleicht lag es daran, dass die Trauer so still war. Außer, wenn Maria Geige spielte. „Geredet wurde groß nicht, jeder war mit sich beschäftigt“, sagt Maria Schmitt. In den Tagen, Wochen und Monaten danach hätten sich die Geschwister verlassen gefühlt. Mutter Marta und Vater Friedrich Liebsch seien zu wortkargen Einzelgängern geworden. Maria versuchte ihre Eltern aufzurütteln: „Ihr habt noch zwei andere Kinder!“

Der Unfalltod bei einer guten Tat

Berthold Enz, der Bruder von Marta und langjähriger Stadtpfarrer in Wiesloch, versucht, die Tragödie für die Familie einzuordnen: „Meine Schwester und meinen Schwager hat das sehr mitgenommen, sie haben schwer am Tod von Klaus getragen.“ Vor allem, dass ihr Sohn „bei einer tollen Sache für einen guten Zweck“ ums Leben kam, sei immer wieder in Gesprächen aufgegriffen worden. Dieser wesentliche Punkt, dass bei einer Aktion der Pfadfinder, wo alle das Gute machen wollen, „dass es da passieren muss, das war schwer zu verkraften“, beschreibt Berthold Enz die Gespräche mit Schwester und Schwager. „Das ist immer im Kopf gewesen, das ist immer wieder durchgebrochen.“ Und der Seelsorger in Berthold Enz kann verstehen, wie diese Tragik, dieses Leid in ihnen arbeitete: „Das rührt dann auch am Glauben.“

Kein Bruch mit dem öffentlichen Leben

Dennoch kam es nach außen zu keinem Bruch mit dem öffentlichen und kirchlichen Leben. Friedrich Liebsch blieb nach dem Tod seines Sohnes noch vier Jahre Stammesleiter der St. Georgs-Pfadfinder in Radolfzell. Marta Liebsch war Pfarrsekretärin und Pfarrgemeinderätin in St. Meinrad, im Sozialdienst der katholischen Frauen, sie war aktiv an der Gründung des Frauenhauses in Radolfzell beteiligt, sie war im Seniorenbeirat der Stadt und organisierte Seniorenfreizeiten. Maria Schmitt, selbst in vielen Bereichen in Donaueschingen ehrenamtlich tätig, hat großen Respekt vor der Lebensleistung ihrer Mutter: „Sie war eine Frau, die sich selbst nicht gerne im Mittelpunkt sah, aber für ihre Anliegen kämpfen konnte.“

Am Morgen des 25. März 1972 in Radolfzell vor der Altkleidersammlung: Die Pfadfinder verteilen sich auf die Unimogs des Französischen ...
Am Morgen des 25. März 1972 in Radolfzell vor der Altkleidersammlung: Die Pfadfinder verteilen sich auf die Unimogs des Französischen Militärs. | Bild: Album Liebsch

Obwohl Marta und Friedrich Liebsch Gesprächen mit ihren Töchtern über Klaus‘ Tod auswichen, nahmen sie Kontakt mit dem französischen Soldaten auf, der als Fahrer den Unglücks-Unimog steuerte. Der Unimog war beim Abbiegen umgekippt, nachdem ein Auto ihn von hinten angefahren hatte. Klaus prallte gegen den Rahmen der Windschutzscheibe und erlag seinen Verletzungen. Der Fall sei vor einem Französischen Militärgericht in Radolfzell untersucht worden, berichtet Maria Schmitt. Nach der Verhandlung hätten ihre Eltern den Fahrer zum Essen eingeladen: „Sie wollten ihm deutlich machen, dass er keine Schuld hatte.“

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Noch einmal die Geige. Maria übte in der Küche. Lisa und Klaus saßen unterm Küchentisch und neckten ihre große Schwester. Bis der Bogen sauste – und am Küchentisch zerbrach. Warum ist das im Gedächtnis geblieben?