Diese Zahlen sind ernüchternd: Fast 800 Kirchenaustritte gab es in den vergangenen drei Jahren bei der katholischen Kirchengemeinde St. Radolt in Radolfzell. Und in diesem Jahr sind es bis Ende Oktober bereits 202. Wie Pfarrer Heinz Vogel bereits in der Vergangenheit erklärt hatte, sind Gründe unter anderem Missbrauchsskandale und das Verbot der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare. Gleichzeitig gibt es aber noch zahlreiche Menschen, die der Kirche nicht den Rücken kehren und sich zum Teil sogar aktiv im Gemeindeleben engagieren. 2021 gab es so noch rund 11.550 Katholiken mit Hauptwohnsitz in Radolfzell. Was motiviert sie?
Nicht mit allem einverstanden
Eine, die sich schon lange in der Kirche engagiert, ist Ute Teige. Seit 2020 ist sie Vorsitzende des Pfarrgemeinderats, zuvor hatte sie zehn Jahre lang das Amt der Stellvertreterin inne. Zudem sitzt sie im Stiftungsrat und im Projektleitungsteam zur Kirchenentwicklung 2030 und ist im Gemeindeteam der Pfarrei St. Meinrad tätig.
Dass sich Katholiken zum Teil von der Kirche abwenden, sei für sie durchaus verständlich. „Ich denke, das können wir alle nachvollziehen“, sagt sie. Der Missbrauchsskandal mache auch sie betroffen, Missbrauch könne „in keiner Form“ akzeptiert werden. Und als katholischen Priestern die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare in der Vergangenheit verboten worden war, sei im Radolfzeller Pfarrblatt eine Stellungnahme erschienen, die dieses Verbot kritisierte. Unterzeichnet wurde die Stellungnahme von Ute Teige, aber auch von weiteren Personen aus der Kirchengemeinde wie Pfarrer Heinz Vogel. „Weil man zeigen wollte, dass man nicht mit allem einverstanden ist“, erklärt Ute Teige.
Es ist nicht der einzige Protest, der aus der Radolfzeller Kirchengemeinde laut wurde: Ministranten der Seelsorgeeinheit hissten gut sichtbar am Kirchturm von St. Meinrad eine Regenbogenfahne.
Kirche ist nicht gleich Kirche
Genau das – „dass es vor Ort die Gemeinschaft gibt, die zum Teil auch anders denkt“ – ermutige sie, sich weiterhin in der Kirche zu engagieren, erklärt Ute Teige. Ähnliches berichtet ihr Sohn Jonas Teige, seit 2006 Ministrant in der Pfarrei St. Meinrad, seit 2011 Oberministrant, zudem Pfarrgemeinderat. Kirche sei nicht gleich Kirche, betont er. „Die Weltkirche ist das eine und das andere ist die Gemeindearbeit mit der Kirche vor Ort.“
Das unterstreicht auch Pfarrer Heinz Vogel. Missbrauchsfälle erschüttern ihn ebenso wie andere Menschen, sagt er. Aber wie Kirche gelebt werde, unterscheide sich von Ort zu Ort. Und auch Diözesen seien nicht gleich. Dennoch gelte es, aus Fehlern zu lernen und problematische Strukturen zu erkennen. Das gelte auch nicht nur für die Kirche. Anderswo sei es schließlich ebenfalls zu Missbrauchsskandalen gekommen, etwa im Sport. „Da, wo es geschlossene Systeme gibt, da wird es kritisch“, so Vogel. Und nicht nur das: „Egal, wo wir uns bewegen, egal, welches Amt wir haben, wir haben immer mit Menschen zu tun und ihren Abgründen.“
Allerdings werde mittlerweile auch schon viel Präventionsarbeit geleistet, damit Kirche als geschützter Raum erfahren werden könne. Wer in der Kirchengemeinde tätig sei, müsse regelmäßig Schulungen absolvieren, erklärt Vogel. Dabei gehe es auch nicht nur um sexuellen Missbrauch, sondern generell um einen grenzachtenden Umgang. Und wer in der Kinder- und Jugendarbeit tätig sei, müsse ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen.
„Da ist die Präventionsarbeit eigentlich schon sehr weit“, sagt Heinz Vogel. „Und trotzdem hängt es immer davon ab, wie die Menschen, die in der Gemeinde tätig sind, dafür sensibilisiert sind, und dass sie das auch ernst nehmen.“
Gemeinschaft vor Ort
Der Pfarrer ist dennoch überzeugt: „Kirche ist mehr als die Amtsträger.“ Das wird auch im Gespräch mit Ute und Jonas Teige deutlich. Er schätze die Gemeinschaft über die Generationen und die Ortsgrenzen hinweg, erzählt Jonas Teige. Die gemeinsamen Aktionen, seien es Ausflüge der Ministranten, Feste der Kirchengemeinde oder Aktionen wie Fastensuppenessen. Dabei wird auf Spendenbasis Suppe angeboten, die Spenden werden schließlich an lokale Projekte wie die Tafel oder das Frauenhaus übergeben.
„Wenn man selbst näher dran ist, hat man ganz andere Einblicke in das, was vor Ort geleistet wird“, sagt auch Ute Teige. „Es ist ja nicht nur Gottesdienst.“ Die Kirche leiste auch karitative Arbeit und könne Menschen unterstützen, die Halt suchen. „Ich glaube, es würde einiges zusammenbrechen, wenn es das nicht mehr geben würde“, so Teige. Heinz Vogel verweist auch auf Einrichtungen wie Kindergärten.
Viel Positives erlebt
„Kirchen und Vereine sind der soziale Kitt unserer Gesellschaft, da lohnt es sich mitzumachen“, fasst es Christof Stadler, stellvertretender Pfarrgemeinderat, aus seiner Sicht zusammen. Er habe viel Positives in der Kirche vor Ort erfahren, sei tollen Menschen begegnet, „die mit Herz und Verstand Radolfzell gut getan haben“. Er selbst wolle helfen, wo es nötig sei.
Dennoch zeigt auch er sich nicht mit allem zufrieden: „Die Missbrauchsfälle schmerzen und verschiedene Entscheidungen – oder bisweilen eben noch keine getroffenen Entscheidungen – lassen einen schon in Teilen zweifeln.“ Er sei klar für ein Zölibat auf freiwilliger Basis und würde sich auch „den Schritt hin zu Diakoninnen wünschen“.
„Wenn jeder nur austritt, verändert sich nichts“
Die Kirche vor Ort so prägen, wie er es sich vorstellt, das will Jonas Teige – und auch das sei ein Grund, warum er sich weiterhin engagiere. „Wenn du etwas ändern willst, musst du dran bleiben“, sagt er. Eine Meinung, die auch Ute Teige teilt: „Natürlich will man auch etwas bewirken“, erklärt sie. „Wenn jeder nur austritt, verändert sich nichts.“