Ein Randstein, ein schmaler Eingang, Treppen ohne Rampe oder Aufzug: All das stellt für Menschen mit einer Gehbehinderung und Rollstuhlfahrer ein Hindernis dar. Constanze Werdermann kann zahlreiche Stellen in Radolfzell aufzählen, an denen es für sie kein Weiterkommen gibt, wenn sie mit ihrer schwerstbehinderten Tochter Nike im Rollstuhl unterwegs ist. Seit zwei Jahren engagiert sich die alleinerziehende und ganztags arbeitende Mutter als ehrenamtliche Behindertenbeauftragte der Stadt.
Einige Verbesserungen konnte Werdermann bereits erzielen. Doch es gebe zahlreiche weitere Dinge, die verändert werden müssten, um den rund 3500 Menschen in der Stadt, die mit einem Behinderungsgrad von mehr als 50 Prozent leben, eine vollständige Teilhabe am öffentlichen Leben zu ermöglichen, sagt sie. Im Gemeinderats-Ausschuss für Bildung, Soziales und Sicherheit hat sie nun einen Überblick über ihre Tätigkeit gegeben.

Jeder zehnte Bürger in der Stadt lebt mit einer Behinderung, die ihn wesentlich einschränkt. Politisch seien Menschen, die körperlich oder geistig eingeschränkt sind, unterdurchschnittlich vertreten, berichtet Constanze Werdermann. Das läge zum großen Teil daran, dass es für viele von ihnen bereits mit großen Mühen und viel Zeitaufwand verbunden sei, ihren Alltag zu meistern. Dazu zählten die Antragstellung von Pflegegeld, Pflegediensten und -hilfsmitteln, Kurzzeitpflege oder Eingliederungshilfe. Zudem kämen vermehrte Arztbesuche, die Organisation und Termine für Therapien. Auch der Weg zum Arzt, zum Einkaufen oder zu Behörden koste für Behinderte oftmals mehr Zeit als für Gesunde. Manchmal müssten Umwege in Kauf genommen werden.
Ein „endloses Projekt“
Barrierefreiheit sei an zahlreichen Stellen in der Stadt nicht gegeben, so Werdermann. Diese zu realisieren sei ein „endloses Projekt“. Von 176 Haltestellen in Radolfzell seien nur 17 barrierefrei, informiert der Behindertenrat auf der städtischen Webseite. Auch der Bahnhof sei nur bedingt barrierefrei. Mit dem Rollstuhl unterwegs komme man nur mit vorheriger Anmeldung und in Begleitung eines Bahnmitarbeiters zu den Bahngleisen.
Bei einem kleinen Spaziergang durch die Stadt nach der Sitzung demonstriert die Behindertenbeauftragte, dass die Bahntoilette für Behinderte für Rollstuhlfahrer nicht zu benutzen ist. Gerade einmal der kleine Rollstuhl ihrer Tochter passt in die Kabine, lässt sich aber kaum wenden. Ein erwachsener Rollstuhlfahrer hat keine Chance, die Toilette zu benutzen. Als Lösung für diese und ähnliche Stellen schlägt Werdermann die Aufstellung einer Containertoilette mit einem Wickeltisch, auch für größere Menschen, vor.
Die Gefahr, zu vereinsamen, ist groß
Weiter führte sie in der Sitzung aus, in Radolfzell fehle bezahlbarer, barrierefreier Wohnraum. Sie berichtete von der erfolglosen Wohnungssuche einer Radolfzeller Bürgerin, die ihre Wohnung nur verlassen kann, wenn sie die Treppe hinuntergetragen wird. „Wie oft will man um diese Hilfe bitten?“, fragte Werdermann. In einer solchen Situation sei kein Leben in Gemeinschaft möglich – und die Gefahr, zu vereinsamen, groß.
Manches konnte sie allerdings, berichtete sie, positiv verändern. Für das Strandbad und das Seebad wurden Wasserrollstühle angeschafft, in denen gehbehinderte Personen bequem ins Wasser rollen und am Badevergnügen teilhaben können. Auch vor der Gestaltung der Friedhofstoiletten und in der Planungsphase der Markolfhalle wurde Werdermann als Gutachterin hinzugezogen. So hat sie zum Beispiel angeregt, dass auch die Bühne der Halle einen Zugang für mobilitätseingeschränkte Personen bekommen sollte.
„Barrierefreiheit beginnt in den Köpfen“
Werdermann möchte für die Bedürfnisse von Menschen mit einer Behinderung sensibilisieren. Auch dort, wo die Vorschriften für Barrierefreiheit eingehalten würden, seien nicht immer glückliche Lösungen gefunden worden, fuhr sie fort. Ein gehbehindertes Kind erreiche die Ratoldus Gemeinschaftsschule zum Beispiel nur durch den Hintereingang. Vor der Schule sei eine breite Treppe angelegt worden, aber keine Rampe. Ein Kind im Rollstuhl werde nie gemeinsam mit seinen Freunden durch den Haupteingang in die Schule gelangen können. Für wünschenswert hält die Behindertenbeauftragte auch einen barrierefreien Spielplatz mit Spielgeräten, die auf die Bedürfnisse von behinderten Kindern abgestimmt seien.
„Barrierefreiheit beginnt in den Köpfen“, meinte Jürgen Keck (FDP). Sozialbürgermeisterin Monika Laule stimmte zu und bedankte sich für Werdermanns Engagement. Sie habe mit ihrem Bericht den Finger in die Wunde gelegt. Auch wenn man Dinge gut machen wolle, fehle manchmal das nötige Verständnis für die Bedürfnisse von Menschen, die mit Einschränkungen lebten. Nina Breimaier (Freie Grüne LIste) dankte für „das Engagement und die Schonungslosigkeit“ Werdermanns. Es sei ein Glücksfall für die Stadt, dass sie dieses Amt „als gesunder Mensch mit dem Blick eines Behinderten“ übernommen habe und Missstände aufzeige. Jeder könne durch einen Unfall, eine Krankheit oder das Alter eingeschränkt werden. „Wir müssen verstehen, dass wir nicht nur etwas für ‚die‘ tun, sondern für uns alle“, appellierte sie.
Bezahlte Stelle in der Verwaltung für einen Behindertenbeauftragten gefordert
Angesichts der Vielzahl an Dingen, die verändert werden müssten, sei diese Tätigkeit nicht im Ehrenamt zu leisten, so Jürgen Keck. Er regte an, eine bezahlte Stelle in der Verwaltung für einen Behindertenbeauftragten zu schaffen. Werdermann sieht das genauso. „Das Ausmaß der Arbeit, die zu leisten ist, geht über den Einsatz eines Ehrenamts hinaus“, meinte sie.