Auf einmal wirken sie alle erleichtert. Die drei Männer in der zweiten Reihe fangen eine muntere Diskussion darüber an, was genau den Dreißigjährigen Krieg ausgelöst hat. Die Frau vor ihnen verspricht ihrem Nebensitzer, dass sie ihm das Buch "Munin oder Chaos im Kopf" bald ausleihen wird. Währenddessen sind sich drei Freundinnen am Saalausgang einig: "Es ist wirklich mal wieder Zeit, einen richtigen Roman zu lesen." Vielleicht ist die Stimmung im Kulturpunkt Arlen plötzlich so gelöst, weil man die gerade zu Ende gegangene Lesung von Monika Maron so gespannt – ja, sogar angespannt – verfolgt hat.
Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die Äußerungen der Grande Dame der deutschen Literatur haben viele Leser vor den Kopf gestoßen. Harsch hatte Maron in den vergangenen Jahren den Islam und die Merkelsche Flüchtlingspolitik verurteilt. Auf diese Kritik ließ die 76-Jährige nun ihren neuen Roman folgen: "Munin oder Chaos im Kopf". Sofort begannen die Literaturkritiker zu diskutieren. Schreibt Monika Maron jetzt für AfD-Wähler? Ist die von der Angst vor Überfremdung gepeinigte Hauptperson ein Abziehbild ihrer Schöpferin? Wie tickt diese Maron?
Fragen, die auch die Besucher der "Erzählzeit ohne Grenzen" beschäftigen. Tatsächlich ist der Andrang so groß, dass die Veranstalter den vorbereiteten Signier-Tisch vor dem Start der Lesung ins Foyer befördern. Platz muss her. Auch in der ersten Reihe werden flugs noch ein paar Stühle vor dem Vorlese-Pult platziert. Wasserglas, Buch und Mikrofon stehen schon bereit.
Pünktlich um 20 Uhr lässt sich Monika Maron auf dem Stuhl dahinter nieder. Die Schriftstellerin ist großgewachsen und hager, mit einem schwarzen Hosenanzug und weißer Bluse bekleidet. Für Begrüßungsfloskeln hat sie nichts übrig: "Ich fange mit dem ersten Kapitel an – dann muss ich nichts erklären". Eben schnell noch die Lesebrille aufgezogen und schon geht es los.
Mit brüchiger tiefer Stimme führt Maron ihre fast 100 Zuhörer auf eine literarische Reise. Es ist ein Ausflug in die düstere Gedankenwelt der Protagonistin Mina Wolf. Mina wie die gleichnamige Sängerin, die in den Sechzigern vom "Heißen Sand" sang und der "Erinnerung daran, dass es einmal schöner war". Es habe sich etwas verändert seit letztem Sommer, konstatiert die Journalistin, die Vorahnungen eines bevorstehenden Krieges umtreiben. Die Stimmung in ihrer Nachbarschaft empfindet sie als explosiv: "Alles scheint möglich." Diese diffusen Ängste verdichten sich, als sich Mina in Recherchen zum Thema Dreißigjähriger Krieg stürzt. Ihr Unbehagen weicht der Erkenntnis: Unsere Welt hat erstaunliche Parallelen zur damaligen Vorkriegszeit. Bevölkerungswachstum und Konflikte zwischen den Religionen. Dazu der Klimawandel, der sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in einer kleinen Eiszeit niedergeschlagen hat. Für Mina ist klar: Hier führt eine Spur aus der Vergangenheit in den eigenen Alltag.
Maron schreibt in der Ich-Perspektive. Selten, dass Minas sorgenvoll mäandernde Gedanken in einen Dialog übergehen. Auch in Arlen kommt kein Gefühl von Miteinander auf. Als die Autorin eine Pause einlegt, einen Schluck Wasser trinkt, um dann den nächsten Abschnitt anzulesen – herrscht ehrfürchtige Stille im Kulturpunkt. Niemand traut sich zu klatschen. Liegt das daran, dass Monika Maron eben noch einen Fotografen in die Schranken verwiesen hat? Ist die Schwere des Texts schuld? Oder sind die Hörer überwältigt davon, wie prägnant die Autorin beschreibt? Es wäre verwunderlich. Denn spätestens als die sprechende Krähe Munin eingeführt wird, nimmt die Lesung eine skurrile Wendung.
Munin fliegt Mina zu. Wo die Ich-Erzählerin schon vorher wenig Begeisterung für ihre Mitmenschen aufbringen konnte, entlockt die Krähe ihr noch pessimistischere Töne. Zum Beispiel, dass man sich jener, für die Hilfe zu spät kommt, entledigen sollte: "Sterben lassen, was nicht leben kann!" Es sind Stellen wie diese, an denen sich die Rezensenten stoßen. Auf wen sich die Aussage bezieht, bleibt offen. Auch in der anschließenden Frage-Runde bietet die Autorin keine Interpretationshilfen an. Die Erzählzeit-Besucher fragen aber auch nicht nach. Sie interessiert, ob Maron gläubig sei – was sie verneint. Und, was der Verlag von "Munin oder Chaos im Kopf" hält: "Der ist froh, wenn ich ein Buch fertig habe", so die lapidare Antwort. Kein Wunder, dass sich die Stimmung löst, als sich die Autorin in Richtung Signier-Tisch verabschiedet.
Zur Person
Monika Maron wurde 1941 in Berlin geboren und wuchs in der DDR auf. Sie studierte Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte und arbeitete als Regieassistentin und Journalistin, bevor sie sich ganz der Schriftstellerei widmete. Ihr erster Roman „Flugasche“ konnte wegen der darin enthaltenen Kritik an der Umweltverschmutzung in der DDR nur in Westdeutschland erscheinen. 1988 siedelte sie über nach Hamburg, ging jedoch fünf Jahre später zurück nach Berlin. 2017 wurde sie mit dem Ida-Dehmel-Literaturpreis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. (svg)