Als Robert Ehret das Ärztehaus am Kreuzensteinplatz in Singen initiierte, war der Nervenarzt seiner Zeit voraus: Es gehörte bundesweit zu den ersten seiner Art. Heute, 50 Jahre später, sieht Nadir Ghanem das Singener Ärztehaus als Drehscheibe regionaler und überregionaler Zusammenarbeit mit anderen Praxen und dem Gesundheitsverbund Hegau-Bodensee-Kliniken.

Der Vorsitzende der Konstanzer Ärzteschaft und Sprecher der Hausgemeinschaft ist seit 17 Jahren mit einer radiologischen Gemeinschaftspraxis am Standort vertreten. Der Röntgenblick ist also Ghanems Metier. Jetzt lenkte er sein Augenmerk auf die unternehmerische Geschichte des Hauses.

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Dabei wurde deutlich, dass der Erfolg auf zwei Komponenten beruht: Das war zum einen der Pioniergeist des Gründers Robert Ehret und seiner Mitstreiter. Das ist andererseits der Wille zur Erneuerung in der Nachfolgegeneration. Denn eines ist nach 50 Praxisjahren für Nadir Ghanem gewiss: „Es ist nichts schwieriger als Gesundheitspolitik.“ Die daraus erwachsenden Anforderungen zu meistern, sei nur in der Gemeinschaft möglich.

Robert Ehret und seine zukunftsweisende Vision

Zum Gelingen des Singener Ärztehauses maßgeblich beigetragen hat in der Folge die Familien Ehret. Er sei 21 Jahre alt gewesen, als das Ärztehaus eröffnet wurde, erzählte Thomas Ehret den Gästen der Jubiläumsfeier. „Ich erinnere mich an die zukunftsweisende Vision meines Vaters und auch an die Belastungen.“ Denn Robert Ehret habe kein Risiko gescheut.

„Heute bin ich stolz und auch ein bisschen sentimental, dass mein Sohn Felix Ehret als Arzt in vierter Generation und meine Söhne Max und Moritz Ehret, stellvertretend für die dritte Generation der Miteigentümer, mit dem Ärztehaus erwachsen geworden sind.“ Heute sei die Einrichtung ein oft kopiertes Erfolgsmodell und eine feste Institution im Rahmen der medizinischen Versorgung.

Oberbürgermeister Bernd Häusler ordnete die Bedeutung des Ärztehauses für Singen und den Landkreis ein. Er bezeichnete die Initiative des Gründers Robert Ehret vor 50 Jahren als revolutionär und Gewinn für die Stadt. „Das Modell hat überlebt. Die ambulante medizinische Versorgung hat an Bedeutung gewonnen.“ Angesichts der Unterversorgung mit Hausärzten denke die Stadt über die Gründung eines medizinischen Versorgungszentrums nach, in dem sie Ärzte anstellen wolle.

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Aktuell seien nur 93 Prozent der zugelassenen Hausarztpraxen besetzt. „Wir leben in politisch schwierigen Zeiten mit Kriegen und Inflation“, sagte Häusler und zog den Vergleich zu den Gründungsjahren des Ärztezentrums. „Damals herrschte der Jom-Kippur-Krieg in Israel, eine Inflation von sieben Prozent, und die Hypothekenzinsen lagen bei über zehn Prozent.“ Das sei kein leichtes Umfeld für die Gründung eines Ärztehauses gewesen. Innerhalb von zehn Jahren wuchs die Stadt nach 1961 um rund 10.000 Einwohner, die ärztlich versorgt werden wollten.

Fünf Disziplinen gibt es heute im Ärztehaus

Als einer der Gründer beschrieb der Kinderarzt Ulf Degenhard die Aufteilung der medizinischen Disziplinen in den Anfangsjahren. Viele kleinere Facharztpraxen vom Zahnarzt bis zum Dermatologen waren im Haus vertreten. Ein Relief des Künstlers Peter Lenk erinnert noch daran. Doch die Kleinteiligkeit mit elf Fachrichtungen war zur Jahrtausendwende nicht mehr zeitgemäß. Deshalb wurde zu dem Zeitpunkt das gesamte Haus umgebaut und neu sortiert. Unter großem Risiko habe Thomas Ehret die kleineren Praxen aufgekauft und weitervermietet. Heute sind fünf Disziplinen im Gesundheitszentrum vertreten, darunter Großpraxen mit Augenheilkunde und Orthopädie sowie die Radiologie.

„25 bis 30 Ärzte arbeiten täglich im Schichtdienst im Gesundheitszentrum“, schilderte Nadir Ghanem die aktuelle Situation. „Die Arbeitsbelastung hat deutlich zugenommen. 150 bis 170 Mitarbeiter kümmern sich vor Ort um die Patienten.“ Dazu kämen Hintergrunddienstleistungen und Zulieferdienste. Etwa die Hälfte der Landkreisbewohner werde im Singener Ärztehaus versorgt. „Wir haben 150.000 Kontakte im Jahr. In der Augenheilkunde, Orthopädie und Zahnmedizin führen wir rund 10.000 ambulante Operationen durch. Wir kümmern uns um die Menschen.“

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Gesundheitswesen muss gemeinsam reformiert werden

Zum Teil begegne man schweren Schicksalen. Das mache demütig, nachdenklich und schärfe den Blick fürs Wesentliche, sagte Ghanem. Als Vorsitzendem der Hausgemeinschaft war es ihm wichtig, die Bedeutung der Freiberuflichkeit in der Ärzteschaft hervorzuheben. Man müsse sich mit den Krankenkassen, dem Gesundheitsverbund und der Politik an einen Tisch setzen, um das Gesundheitswesen im Landkreis angesichts des Ärztemangels zu reformieren. Neue Chancen sieht er dabei auch in der Anwendung von künstlicher Intelligenz (KI). „Es wird in Zukunft mehr regionale Gesundheitszentren geben“, sagte Ghanem. „Das haben wir hier ja schon.“