Zum Treffpunkt im Januar hat sich die Singener Vesperkirche in den vergangenen Jahren entwickelt. „Als Vesperkirche sind wir einzigartig“, sagt Ulrich Kaiser als Finanzchef der außergewöhnlichen Sozialinitiative, die Menschen zusammenbringen will – über alle Grenzen hinweg. Wenn Jahr für Jahr im Januar die Kirchenbänke aus der Lutherkirche geräumt werden, um Tischen und Stühlen Platz zu machen, werden täglich 350 Essen ausgegeben. Dann treffen Lehrer und Sozialhilfeempfänger ebenso aufeinander, wir Firmenchefs und Arbeitslose oder Rentner und Schüler. „Was wir nicht garantieren können, ist ein Tisch für mehrere“, erklärt Kaiser. Aber Platz für Gäste, die ihr Mittagsmahl mit anderen teilen wollen, gebe es fast immer, wenn die Vesperkirche vom 12. bis 26. Januar ihre Tore öffnet. „Die Kirchenbänke finden für zwei Wochen Platz in der Markuskirche“, verrät der Vesperkirchen-Organisator Joachim Hagert. Im Vorfeld ebnet Rolf Wagner mit seinem Team von der Ski-Gymnastikgruppe des TSV Überlingen am Ried mit speziell vorgefertigten Holzkonstruktionen den Kirchenboden ein, damit Mitarbeiter des Singener Bauhofs die Kirchenbänke abmontieren und abtransportieren können. „Es steckt ganz schön viel Organisationsarbeit dahinter“, so Wagner.
Ein Mittel gegen Einsamkeit haben sich die über 500 Helfer ausgedacht, die Jahr für Jahr beim Projekt Vesperkirche dabei sind. In den 15 Tagen werden über 5000 Essen ausgegeben, rund 450 Kuchen verspeist und unzählige Stunden ehrenamtlich gearbeitet. Dabei geht es den Initiatoren nicht um Armenspeisung, sondern um Gemeinschaft, auch wenn dank breiter Unterstützung die Mahlzeiten für einen symbolischen Euro abgegeben werden. „Rechnerisch müssten wir 8 Euro verlangen“, hat Kaiser kalkuliert.

Viele Spender und Sponsoren ermöglichen den wohltätigen Ansatz, wie die Vesperkirchenmacher betonen. Das Haus am Hohentwiel kocht jedes Wochenende neben den regulären Mahlzeiten für die Pflegeheimbewohner auch über 300 Essen für die Vesperkirche, aus der Küche des Stockacher Partyservice Maier wird das Essen unter der Woche geliefert und die Fondium-Kantine kann genutzt werden, um Tassen, Teller, Besteck und Gläser für den Einsatz am nächsten Tag zu spülen. Fünf Paletten mit über 1600 Liter Mineralwasser steuert die Randegger Ottilienquelle bei, Servietten und Tischdecken werden jeden Tag zum Sonderpreis bei Stadelhofer in Rielasingen-Worblingen gereinigt und obendrein backen viele Unterstützer Kuchen für die Vesperkirche. „Davon können wir nie genug haben“, ruft Koordinatorin Karin Burger die Mitbürger zu Kuchenspenden auf. Insgesamt 100 Spender tragen mit größeren oder kleinen Geldbeträgen dazu bei, das Projekt am Leben zu erhalten. „Wir mussten nie Kredit aufnehmen“, dankt Pfarrerin Andrea Fink-Fauser den vielen Unterstützern.
Jeden Morgen gegen 10 Uhr treffen sich die bis zu 40 Freiwilligen zum Vorbereiten, Tische decken, Speisen ausgeben, Spülen und Aufräumen. „Das Reinigungsteam schließt gegen 19 Uhr die Kirche zu“, berichtet die Pfarrerin von einem regulären Acht-Stunden-Tag. Wichtig ist den Organisatoren die Atmosphäre. „Tischdecken müssen sein“, betont Ulrich Kaiser, dass es nicht Ziel sei, Hungernde billig zu sättigen, sondern Gemeinschaft zu stiften und Menschen miteinander ins Gespräch zu führen, die sich sonst nicht begegnen. Dass das Konzept aufgegangen ist, zeige der Erfolg. „Die singener Vesperkirche ist aus dem Jahresverlauf nicht mehr wegzudenken“, beobachtet Pfarrerin Fink-Fauser und blickt schon über das Jahr 2020 hinweg: Auch in den nächsten Jahren planen die Organisatoren, die Lutherkirche zum Gasthaus am Weg zu machen.
