Günter Mayer ist nett, sympathisch und hilfsbereit. So beschreibt ihn Bruno Frese, der ihn seit 2017 kennt. Und so stellt sich Günter Mayer auch im Gespräch vor. Er gibt die Hand, legt seinen bunten Schal zur Seite und lächelt. Günter Mayer lebte auf der Straße. Zwischen zweieinhalb und drei Jahre lang, schätzt er, schlief er unter dem Dach des Singener Hallenbads oder im Winter in einem Abbruchhaus in der Hohenkrähenstraße. Wie es dazu kam? Sein Vermieter starb, der neue Eigentümer meldete Eigenbedarf an. Und der 62-Jährige fand zwischen Schicksalsschlägen und Suchtproblem nicht die Kraft, eine neue Wohnung zu finden. Doch heute hat er die Wende geschafft.
Sein Leben begann wie viele andere auch
Anfangs verlief das Leben von Günter Mayer in geregelten Bahnen. Aufgewachsen in Engen, machte er eine Ausbildung, arbeitete als Stuckateur, spielte Fußball, heiratete und wurde Vater. Doch die Scheidung habe ihn aus der Bahn geworfen, immer häufiger trank er. „Der Alkohol hat betäubt“, sagt er und zieht eine kleine Flasche Wodka aus der Tasche seiner grünen Jacke. Er lallt nicht, wankt nicht, hat aber schon etwas getrunken. Mehrere Entwöhnungen habe er bereits hinter sich, mehrere Jahre trocken gelebt. „Man fühlt sich schon besser, klar. Aber wenn ich Stress habe, brauche ich einen Schluck. Das beruhigt“, erklärt er seinen Rückfall.
Auf dem Bau gehörte das Feierabendbier dazu
Schon früh habe er einen Hang zum Alkohol gehabt, auf dem Bau wurde häufig mal ein Feierabendbier getrunken. Doch seine damalige Ehefrau sei streng gewesen: „Ein Bier durfte ich trinken, wehe wenn mehr.“ Nach der Scheidung war es nicht mehr nur ein Bier.
Günter Mayer hat gute Vorsätze zum neuen Jahr: Erst will er täglich halb so viel Alkohol trinken, dann noch weniger. Und er will zu seiner Freundin ziehen, zurück nach Singen.
Von der Unterkunft in eine eigene Wohnung
Sein größtes Ziel hat er vor einigen Monaten erreicht: Weg von der Straße. Nach einem epileptischen Anfall vermittelte das Singener Krankenhaus den Kontakt zum kommunalen sozialen Dienst. Drei Monate habe er in der Obdachlosenunterkunft in der Bahnhofstraße 12 gelebt. Bruno Frese half von dort aus bei der Wohnungssuche, indem er mit Gesprächen motivierte und beim Ausfüllen von Anträgen unterstützte.
Ein seltenes Phänomen. Heute hilft Mayer anderen
Für den Sozialarbeiter ist Günter Mayer ein Phänomen, das er nach eigenen Angaben zu selten erlebt. Denn der heute 62-Jährige habe es aus eigenem Antrieb geschafft. Über den Wirt seiner Stammkneipe kam Mayer an eine kleine Einzimmer-Wohnung im Souterrain der Bahnhofstraße. Die ist zwischenzeitlich an einen anderen einstigen Obdachlosen vermietet, Mayer zog weiter nach Engen – weg von der Kneipe, wo im Vorbeigehen das Bier lockt.
Heute helfe er anderen: „Günter Mayer wird häufig einen Rollstuhl schiebend oder mit Einkäufen bepackt in Singen angetroffen“, schildert Frese. Mayer erzählt, dass er einem Bekannten hilft, der gesundheitlich selbst nicht mehr so gut kann.
Nur noch mit einem Koffer und Rucksack unterwegs
Doch bis er anderen helfen konnte, erlebte der 62-Jährige selbst viele dunkle Tage. „Ich habe mich hängen lassen“, sagt er rückblickend. Von der voll eingerichteten Wohnung sei es für ihn direkt auf die Straße gegangen. Familienangehörige oder Freunde habe er nicht um Unterstützung bitten wollen, eine andere Wohnung habe er nicht gefunden. „Ich habe einen Koffer und einen Rucksack gehabt, das war alles. Den Rest habe ich verscherbelt und verkauft.“ Seine Obdachlosigkeit begann im Sommer, da habe er gut draußen schlafen können. „Es ging ganz schnell, dass ich mich daran gewöhnt habe.“ Im Winter wurde es ungemütlicher, also übernachtete er in Banken. Doch da gebe es ständig Ausweiskontrollen.
Morgens erstmal zum Supermarkt, Bier holen
Mit einem Freund, den er im Bahnhof kennengelernt habe, teilte er sich monatelang den Alltag. Jeder Tag begann mit dem Gang zum Supermarkt, Bier und Zeitung holen. Sein Freund habe nichts gegessen, nur gelesen, er selbst habe sich von Wurstbroten und Fischbüchsen ernährt. Wenn der Supermarkt sonntags nicht geöffnet hatte, gingen sie eben an die Tankstelle.
Im Sommer schliefen sie am Hallenbad und im Winter in einem Abbruchhaus. Nachbarn hätten ihnen mit einer Matratze und Bettsachen geholfen, auch mal einen Kaffee vorbei gebracht. Da habe es sogar Wasser gegeben – „kaltes Wasser bloß, aber so konnten wir uns frisch machen“. Denn es habe weh getan, wenn andere ihn beim Essen in der Singener Tafel darauf ansprachen, dass er stank. Noch heute weiß er auswendig, wo es abschließbare Toiletten gibt – da habe er sich und seine Wäsche waschen können.
Um eine Wohnung muss man sich kümmern. Dabei hilft der Sozialarbeiter
Bei der Rückkehr in ein normales Leben half Bruno Frese. „Auf der Straße lernt man zu überleben“, sagt er aus Erfahrung, doch viele Dinge würden auch verlernt. „Was ist Sauberkeit und wie wasche ich meine Wäsche?“, nennt Frese als Beispiele. „Das Leben wird nicht einfacher, wenn man eine Wohnung hat – denn man muss sich um etwas kümmern.“ Deshalb können seine Klienten, wie er sie nennt, weiterhin bei ihm melden. Günter Mayer schaue beispielsweise immer wieder mal vorbei, wenn es ein neues Formular gibt oder er sich bei einem Kaffee unterhalten möchte. Der Sozialarbeiter schätzt, dass 60 bis 70 Prozent seiner Klienten eine Nachbetreuung brauchen. Auch Vermieter können sich bei Bruno Frese oder seinem Kollegen Andreas Friedmann melden, wenn es Probleme gibt.
Bei Mayer gab es keine Probleme. Das Landratsamt habe eine Erstausstattung ermöglicht, von dem Geld kaufte er einen Fernseher, ein Bett, einen Schrank. Einen Teil habe er auch versoffen, räumt er offen ein.
Erkennen und handeln muss der Betroffene selbst
Wie geht der Sozialarbeiter Frese damit um? „Wir sind keine Erwachsenenerzieher“, stellt er klar. Seine Motivationsarbeit sei ein hartes Brot, denn häufig dauere es Monate und Jahre, bis Denkweisen sich verändern. Er könne seinen Klienten Tipps geben und einen Erstkontakt vermitteln, etwa zu einer Schuldnerberatung, doch gehen müsse der Betroffene selbst.
Heute bezieht der 62-Jährige eine Rente. Er sei chronisch krank und könne wegen epileptischer Anfälle höchstens drei Stunden pro Tag arbeiten. Das habe ein Amtsarzt festgestellt. Als Stuckateur dürfe er dann keine Leiter, kein Gerüst mehr betreten – also fand er keine Anstellung mehr. Die Rente sei klein, doch viel brauche er nicht. Auf der Straße habe er das Haushalten gelernt: „Ich komme am Tag mit zehn Euro aus. Auch mit fünf, wenn es sein muss.“ Beim Discounter koste das Bier nur 39 Cent, in Gaststätten gehe er so gut wie nie.
Die Zukunft ist ungewiss
Wie der 62-jährige ehemalige Obdachlose Günter Mayer seine Zukunft sieht, kann er nicht sagen. „Ich weiß nicht, wie es weiter geht. Aber Saufen bringt auch nichts“, sagt er und gibt zum Abschied die Hand.