Alleine im Klinikum liegen, während die Familie zuhause Weihnachten und wenig später den Start ins neue Jahr feiert? Für viele Menschen ist das Albtraum-Szenario. Doch auch in diesem Jahr verbrachten 321 Menschen die vergangenen Tage im Hegau-Bodensee-Klinikum Singen. „Normalerweise kommen dann Verwandte mit Plätzchen und Blockflöte, doch das geht dieses Jahr wegen der Besucherregelung nicht“, sagt Waltraud Reichle. Sie ist Klinikseelsorgerin und kümmert sich mit ihrem Kollegen Christoph Labuhn um Patienten, Angehörige und Mitarbeiter.
Denn auch die seien stark gefordert nach der dauerhaften Überlastung der vergangenen Monate. „Es gibt Momente, an denen die körperliche und seelische Erschöpfung durchbricht“, beobachtet die Seelsorgerin. „Für uns ist es das zweite Weihnachten in Schutzanzügen. Ich komme mir darin manchmal vor wie ein Alien.“
In einer Klinik trotz Hygienevorgaben für Weihnachtsstimmung zu sorgen, ist nicht ganz einfach. Das Team habe es dennoch versucht: In der Kapelle stehen ein Weihnachtsbaum und eine Krippe. „Wir probieren, Weihnachtsimpulse zu setzen“, sagt Reichle. Der Begriff Weihnachtsstimmung sei aber trotz Konzerten und einem Gottesdienst im kleinsten Kreis nicht ganz passend. Zu viel trennt ein Weihnachten im Klinikum von den gewohnten Ritualen im eigenen Zuhause.

Mit Postkarten kann Waltraud Reichle dennoch für ein Lächeln sorgen, dafür hat sie immer ein paar in ihrem Rucksack. Zu verdanken sei das Pfarrerin Sofie Fiebiger: Kinder der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde schickten Postkarten an Patienten – freiwillig, wie eine junge Autorin auf ihrer Karte betonte. Kleine Gesten, die Mut machen. Denn Freud und Leid liegen in diesen Tag besonders nah beieinander.
Pandemie hat gelehrt, Körper zu schützen. Was ist mit der Seele?
Manche Momente ihrer Arbeit seien sehr leise, schildert Reichle. Etwa wenn sie kurz vor Weihnachten ein Segensgebet für zwei Männer spreche, die an Covid gestorben sind. Diese Unbegreiflichkeit auszuhalten, sei häufig schwer, sagt Reichle – zwei Wochen zuvor habe man doch noch mit dem Lieben zusammen ferngesehen. Wenn jemand an Corona erkrankt ist, gehe es häufig auch um das Thema Angst. Denn vielen Patienten sei bewusst, welche Folgen diese Krankheit haben kann. Umso mehr freue man sich gemeinsam, wenn der Patient Fortschritte mache.

„Durch Covid haben wir eine große Bedrohung und gelernt, unseren Körper zu schützen. Wir impfen, boostern, testen. Aber auch die Seele leidet“, sagt Reichle.
Freud und Leid liegen besonders nah beieinander
Der Mensch brauche Kontakt. „So ein Tag kann lang sein in einem Krankenzimmer.“ Dort liegen natürlich nicht nur Covid-Patienten. Manche Menschen erleben auch schöne Momente, wenn sie beispielsweise ein Baby geboren haben.
Wenn Betroffene sich mentale Unterstützung wünschen, ist ein Seelsorger zur Stelle. „Wir sind 24 Stunden zu erreichen“, sagt Reichle. Zu zweit geht das nicht: 16 weitere Seelsorger unterstützen Reichle und Christoph Labuhn bei ihrer ökumenischen Arbeit. Dieses Jahr sei es etwas anders als sonst: „Unsere Flure in der Klinik sind momentan sehr leer.“ An den Patienten liegt das nicht. Laut Werner Merk, Sprecher des Gesundheitsverbunds Landkreis Konstanz, sind ähnlich viele Menschen im Klinikum wie zu anderen Jahreswechseln. In den vergangenen vier Jahren waren es durchschnittlich 334. Doch der Besuch fehlt.
Manche Nerven liegen blank
Und die Folgen der Pandemie werden einmal mehr deutlich. „Bei manchen Patienten und Angehörigen liegen die Nerven blank“, sagt die erfahrene Seelsorgerin. Menschen kämen an Grenzen und würden auch unter den gesellschaftlichen Spannungen leiden. „Covid hat uns gezeigt, dass nichts selbstverständlich ist. Und wie schnell uns die Selbstverständlichkeiten des Lebens genommen werden können“, fasst Reichle zusammen.
Wie Menschen gut für sich sorgen können
Immer wieder gehe es bei Gesprächen mit den Seelsorgern darum, wie Menschen gut für sich selbst sorgen können. Das sei ganz individuell: Der eine genieße es, gemeinsam zu essen oder Essen zuzubereiten. Der andere male gerne, sagt Reichle. Wichtig sei, sich Auszeiten zu nehmen. Sie genieße es nach einem Tag im Krankenhaus beispielsweise, sich in der Natur zu bewegen oder abends Yoga zu machen. Und als sie am zweiten Weihnachtsfeiertag ihr persönliches Weihnachten feiern konnte, ohne Dienst, durften auch gute Gespräche nicht fehlen.
Gegen die Einsamkeit von Patienten helfen auch digitale Möglichkeiten. Am Vortag habe sie beispielsweise einer dementen Frau geholfen, mit ihrem Sohn zu telefonieren. Brückenfunktion nennt Reichle das. Denn mache Patienten seien so schwach, dass sie ein Gerät nicht bedienen können. Die Seelsorgerin ist dennoch überrascht, wie unverzichtbar das Smartphone inzwischen für ihre Arbeit geworden ist. In einem anderen Fall habe sie Bilder einer alten Dame gemacht und diese an die Angehörigen geschickt. Die Dame streckt mit einem Lächeln den Daumen hoch. Es geht ihr gut, trotz Weihnachten und Jahreswechsel im Klinikum.
Die Technik hilft. Hoffnung auch.
Zu Silvester sei die Stimmung unterschiedlich: Während manche sehr traurig seien, dass 2021 so endet, würden andere positiv in eine hoffentlich gesunde Zukunft blicken. „Viele sagen nach diesem Jahr: ‚Es kann nur besser werden.‘“