Herr Häusler, zuletzt hat die Polizei die Teilnehmerzahl des sogenannten Corona-Spaziergangs in Singen mit mehr als 2000 angegeben. Macht Ihnen das Sorgen?
Nein, das macht mir keine Sorgen. Es ist Ausdruck der Versammlungsfreiheit und unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
In Konstanz waren es 750, in Radolfzell 600. Entwickelt sich Singen zum Zentrum der Protestierenden?
Das liegt wahrscheinlich daran, dass Singen am besten erreichbar ist. Dementsprechend sind viele Menschen aus der Umgebung dabei. So habe ich auch andere Autokennzeichen gesehen, aus dem Schwarzwald-Baar-Kreis oder dem Kreis Tuttlingen. Und manch einem fällt es wahrscheinlich leichter, an einer Demonstration teilzunehmen, bei der schon viele Leute sind. Die Zahlen steigen an, von anfangs etwa 200 auf zuletzt mehr als 2000. Da sind die Zahlen der Polizei sicher verlässlich, die schätzen das immer gut.
Sie haben aber keine Sorge, dass in Singen ein größeres Radikalisierungspotenzial bei den Bürgern vorhanden ist.
Bislang haben die Teilnehmer sich keine Auseinandersetzungen geliefert. Es sind keine Steine geflogen, es wurde niemand geschubst. Dass Sprüche skandiert werden oder dass Trillerpfeifen benutzt werden, ist normal bei einer Demonstration. In diesem Sinne ist alles so verlaufen, wie eine Demonstration verlaufen sollte – außer, dass sie nicht angemeldet war. Es war also kein Veranstalter bekannt und gab auch keine Ordner. Bei einer Anmeldung weiß man, wer der Versammlungsleiter ist und wogegen oder wofür man demonstriert. Aber wenn „Friede, Freiheit, keine Diktatur“ gerufen wird, ist das Teil von Versammlungsfreiheit und politischer Meinungsäußerung im Rahmen von Artikel 8 Grundgesetz.
Sie zitieren aber auch immer Absatz 2 dieses Artikels.
Das tue ich. Es gibt im Versammlungsgesetz die Pflicht eine Versammlung anzumelden. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat in seinem jüngsten Urteil dazu aber eine interessante Abwägung getroffen. Versammlungen müssen zwar angemeldet werden, aber die Nicht-Anmeldung einer Versammlung bedeutet nicht, dass damit Artikel 8, Absatz 1 des Grundgesetzes, also das Recht auf Versammlungsfreiheit, außer Kraft gesetzt wird. Und das haben wir auch nie gesagt. Ich sage immer nur, dass die Anmeldung eine Pflicht ist. Aber das richtet sich nicht gegen die Versammlungsfreiheit.
Vor Gewalt haben Sie also, Stand jetzt, keine Sorgen?
Bislang waren die Demonstrationen friedlich und es gibt keinen Anlass, jetzt eine andere Gefahrenprognose zu treffen – auch wenn natürlich nicht jedes Wort freundlich ist. Auch dazu sagt das Gericht etwas. Es muss sich nämlich um eine fundierte Gefahrenprognose handeln, und das ist auch gut so – sonst haben wir wirklich Willkür.

In anderen Städten wird ja durchaus angemeldet. Warum nicht hier?
Ich weiß es nicht. In irgendeinem Interview mit einem sogenannten Sparziergänger wurde mal geäußert, man würde eine Anmeldung in Betracht ziehen, wenn es mehr Teilnehmer würden. Ich weiß aber nicht, wann dieser Punkt erreicht sein soll, dass jemand den Mumm hat, vornedran zu stehen. Es geht ja offenbar auch die Sorge um, die Stadt würde eine Maskenpflicht verhängen. Bis heute hat die Stadt nicht gesagt, dass sie eine Maskenpflicht anordnet.
Es kursiert auch das Gerücht im Netz, dass die Stadt im Falle einer Anmeldung die Demonstration verbieten würde.
Das geht natürlich nicht. Das Einzige, was wir bei einer Veranstaltung machen können, ist, mit den Anmeldern abzusprechen, wo die Route verläuft. Doch auch da dürfen wir die Demonstration nicht einfach ins Industriegebiet verlegen – man darf sich versammeln, wo man will, da ist die Rechtsprechung klar. Es geht um die Abwehr von Gefahren, und zwar für Leib und Leben ebenso wie für Sachen. Da kann man diskutieren, dass es nicht über den Busbahnhof geht, wenn mehrere Busse gleichzeitig abfahren, aber das geht im gegenseitigen Einverständnis. Und es geht um Ordner, die beispielsweise die Straße absperren, wenn der Demonstrationszug durchläuft. Es geht um Kommunikation, nicht ums Verhindern.
Die Stadt hat im Dezember versucht, den sogenannten Spaziergängern mit einer Allgemeinverfügung die Veranstaltung zu verbieten – mit mäßigem Erfolg.
Das muss man auseinanderhalten. Damals gab es viel weniger der sogenannten Spaziergänge und es gab Ausschreitungen in Reutlingen und Mannheim. Darauf bezogen haben wir den sogenannten Spaziergang in Singen verboten – als präventive Maßnahme der Stadt Singen, weil wir die Befürchtung hatten, dass es auch bei uns zu Ausschreitungen kommt. Die Polizei war damals mit größeren Kräften hier und hat entschieden, es laufen zu lassen, nachdem die Demonstration friedlich losgegangen war. Das hat etwas mit Verhältnismäßigkeit zu tun. Es kam nicht zur Eskalation, also ist Artikel 8 das höhere Schutzgut im Vergleich zur Allgemeinverfügung der Stadt. Deshalb gab es auch keine weitere Allgemeinverfügung der Stadt.
Wird es weitere Versuche mit Allgemeinverfügungen geben?
Aktuell nicht. Wir werden aber immer wieder eine Gefahrenprognose abgeben, auch in Absprache mit der Polizei.

Es werden nun immer mehr sogenannte Spaziergänger und zuletzt gab es auch eine erste Mahnwache dagegen. Muss die Stadt eingreifen?
Wir können gar nicht eingreifen. Artikel 8 gilt. Wenn es um Leib und Leben geht, muss man eingreifen. Aber ob man die Störer rauszieht oder die ganze Versammlung auflöst, ist eine Abwägung, die der Einsatzleiter der Polizei vor Ort trifft. Da ist immer die Frage, wie sich die Demonstration entwickelt. Aber das höchste Gut ist, dass die Demonstration möglich sein muss.
Fühlt sich der kommunale Verwaltungsapparat von den sogenannten Spaziergängern ein Stück weit überlistet?
Das würde ich nicht sagen. Am Anfang waren wir vielleicht ein bisschen überrascht. Aber jetzt weiß man es.

Warum nehmen denn die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen derzeit zu?
Die Maßnahmen regen natürlich zu heftigsten Diskussionen an, auch im privaten Bereich. Und es ist natürlich auch schwierig, wenn zum Beispiel der Ministerpräsident Alarmstufe II gelten lässt, obwohl die entscheidenden Kennzahlen nach unten gehen. Das sind Punkte, bei denen Bürger sagen: Jetzt verstehe ich die Welt nicht mehr – und zwar auch solche Bürger, die die Corona-Maßnahmen grundsätzlich mittragen. Man weiß nicht mehr, wohin die Reise geht. Und ja, teilweise fühlt man sich ein bisschen verschaukelt. Zum Beispiel wenn plötzlich der genesenen Status nur noch drei Monate gilt, aber im Bundestag sechs Monate. Diese Unsicherheit treibt die Menschen auf die Straße.
Es ist also ein Kommunikationsproblem?
Es ist ein Klarheitsproblem. Es muss klare Ansagen geben, ohne dass man diese Ansagen später wieder kassiert und sich auf die Wissenschaft zurückzieht – denn auch Wissenschaftler sind oft unterschiedlicher Meinung. Da muss man auch eine gewisse Geradlinigkeit haben. Es wurden Entscheidungen getroffen, aber wenn sie zu oft revidiert werden, verunsichert das die Menschen. Zum Beispiel wenn es von heute auf morgen heißt, dass man sich schon drei Monate nach der Zweitimpfung boostern lassen kann. Und kurz darauf durfte man in Gaststätten nur noch mit 2G plus gehen. Das frustriert die Menschen.
Haben wir vielleicht zu wenig Geduld mit Wissenschaftlern? Wissen verändert sich ja auch.
Dass sich Wissen verändert, ist natürlich klar. Aber zwischen Wissenschaft und Politik gibt es einen Unterschied. In der Politik muss man abwägen. Und dann muss man überlegen, ob die Maßnahmen und Entscheidungen, die man trifft, für die Menschen noch nachvollziehbar sind. Nur noch hin und her zu springen und das mit ständig neuen Erkenntnissen der Wissenschaft zu begründen macht es schwierig.
Vielen Politikern wird von den Protestierenden vorgeworfen, nicht mit den Menschen zu sprechen. Sie waren fast jeden Montagabend dabei und sind auch gezielt auf Menschen zugegangen. Mit Erfolg?
Nein, das war erfolglos. Ich habe aber auch gezielt Personen angesprochen, die im Internet nicht unbedingt Sachen reingestellt haben, die der freiheitlich-demokratischen Grundordnung entsprechen. Wenn jemand sagt, das System müsse gestürzt werden, es gebe die Bundesrepublik nicht, es sei nur eine Finanz-GmbH oder es gebe keinen Friedensvertrag – also all die Sachen, die einer bestimmten Gruppe zugeschrieben werden – dann habe ich ein Problem mit solchen Personen. Oder auch wenn Personen, die im politischen Alltag unterwegs sind (gemeint ist der AfD-Landtagsabgeordnete Bernhard Eisenhut, Anm. d. Red.), und Aufkleber von einem österreichischen Internet-TV-Sender verteilen, dessen Chef und Gründer der rechtsextremen Szene zugeordnet wird. Seit es das Grundgesetz gibt, haben doch sehr viele Leute eine sehr gute Zeit in diesem Land gehabt – zumindest ich fühle mich außerordentlich wohl in der Bundesrepublik Deutschland. Aber wenn jemand sagt, er habe ein Problem mit der Impfpflicht, er verliere wegen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht den Arbeitsplatz, habe aber Angst vor der Impfung, oder wenn jemand keine Impfung für Kinder will, sind das berechtigte Ängste. Das verstehe ich. Doch das entscheiden andere. Als Chef der unteren Verwaltungsbehörde muss ich es aber umsetzen. Denn ich bin als OB ja nicht nur Kommunalpolitiker.
Sollte die Impfpflicht kommen, haben Sie Sorge, dass das auf dem Rücken der Kommunen eingeführt wird?
Wahrscheinlich wird das bei der unteren Verwaltungsbehörde bleiben. Wer soll es sonst machen?
Denken Sie, dass das zu schaffen ist?
Die Politik muss sich gut überlegen, wie man das verwaltungstechnisch umsetzt. Eine Impfpflicht ist leicht beschlossen, aber ich weiß nicht, wie wir sie umsetzen sollen und mit welchen Mitarbeitern – und dann auch noch dem Datenschutz und dem Grundgesetz entsprechend. Bisher ist nicht einmal richtig definiert, wie die einrichtungsbezogene Impfpflicht umgesetzt werden soll.
Was erwarten Sie, wie sich eine Impfpflicht auf die Proteste auswirkt?
Es kann schon sein, dass die Proteste dann größer werden.
Sehen Sie eine Möglichkeit, diese Gruppe doch noch abzuholen?
Wie wollen Sie die abholen? Es gibt zwei Meinungen, und wer gegen die Impfpflicht ist, bei dem ist diese Meinung sehr fest. Und wenn es zur Impfpflicht kommt, sind auch all diejenigen impfpflichtig, die sich bislang auch schon haben impfen lassen. Eventuell wird es dann auch für die Gruppe der Geimpften weitere Impfungen als Pflicht geben.
Zuletzt sind auch Autos in den Protestzug geraten. Werden die Demonstrationen gefährlicher mit steigender Teilnehmerzahl?
Der Demonstrationszug wird natürlich länger und man weiß nie, ob ein Autofahrer nicht doch mal abgelenkt ist. Das kann sehr schnell gehen. Autofahrer sind auch schon ungeduldig geworden und es gab Hupkonzerte. Vorletzte Woche hat sich ein PKW gefährlich durch den Demonstrationszug gedrückt und hätte beinahe einen Kinderwagen touchiert. Wir wollen natürlich nicht, dass etwas passiert, deswegen werben wir ja für die Anmeldung. Dann stellt der Bauhof im Vorfeld Warnschilder auf, die man rausziehen kann, wenn der Demonstrationszug kommt, und es gibt Ordner für die Absicherung des Zuges. Aber das hat nichts damit zu tun, dass man eine Demonstration verhindern will.
Fragen: Matthias Güntert und Stephan Freißmann