Unbewusst begab sich die medizinische Fachangestellte Sofia Martins am Donnerstag direkt in die Gefahrenzone. Denn sie arbeitet in einer Kinderarzt-Praxis nahe dem Herz-Jesu-Platz in Singen und steuerte die nach der Mittagspause wieder an, wie schon so viele Male zuvor. Doch an diesem Tag waren zwei Männer in der nahegelegenen Hegaustraße/Alpenstraße in eine Anwaltskanzlei eingedrungen und haben einen bis dahin unbekannten Stoff versprüht. Der erste von zwei Gas-Alarmen in Singen an diesem Tag, Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr reagierten mit einer Sperrung der Innenstadt. Doch sie sei durchgewunken worden, berichtet die 19-Jährige am Tag danach.
In der Arztpraxis wurde die medizinische Fachangestellte dann schon mit möglichen Folgen des Geschehens konfrontiert: Ein Vater machte sich Sorgen, sein Kind könnte den Stoff nahe dem Tatort eingeatmet haben.
Kontaminiert durch indirekten Kontakt
Nachdem Martins und ihre Kollegen das Kind versorgt hatten, sei es ans Krankenhaus verwiesen worden, damit es dort von anderen Fachärzten untersucht wurde – zur Sicherheit. Wie es dem Kind inzwischen geht, weiß die medizinische Fachangestellte nicht. Doch dann standen sie selbst im Fokus: Sie seien zusammen mit dem Arzt von der Polizei zum Kontaminierungs-Platz neben dem Einkaufszentrum Cano geführt worden. Grund dafür sei der direkte Kontakt mit dem Kind gewesen.
Dort sammelten sich weitere Personen, die mit dem Stoff in Berührung gekommen sein sollten. Darunter waren laut Sofia Martins auch diejenigen, die direkt von der Tat in der Anwaltskanzlei betroffen waren. „Alle waren ruhig, nicht aufgeregt“, sagt sie dem SÜDKURIER.

Die Polizisten vor Ort hätten sich gut um sie gekümmert und sie beruhigt. „Aber ich kam mir irgendwie dumm vor“, sagt die 19-Jährige. Trotz Informationen der verschiedenen Einsatzkräfte habe sie die Gefahr nicht einschätzen können. „Alle wussten ja noch nicht, was das für ein Stoff war“, so Martins. Es sei eine völlig neue Situation für alle Beteiligten gewesen.
Erst am Donnerstagabend konnten Spezialisten Entwarnung geben: Es handle sich nicht um einen Kampfstoff oder ein ähnlich gefährliches Gas. Gegen 20.30 Uhr wurden acht Stunden nach der ersten Attacke in einer Anwaltskanzlei die Absperrungen aufgelöst und geräumten Bereiche wieder freigegeben. Am Freitagmittag stand dann fest, um was für einen Stoff es sich handelte: Einer, den man auch in handelsüblichem Pfefferspray findet. Zu den Vorfällen in der Kanzlei sowie in der Tiefgarage wird weiterhin ermittelt. Zwei Tatverdächtige wurden vorläufig festgenommen und dann wieder auf freien Fuß gesetzt.
Nach einer Dusche ging es in die Münchriedhalle
Doch das war in dem Moment am Donnerstagmittag noch unklar, man habe von Schlimmerem ausgehen müssen, betonen Verantwortliche im Nachgang immer wieder. Einsatzkräfte richteten daher direkt vor Ort Duschen für die Kontaminierten ein, berichtet die medizinische Fachangestellte weiter. „Wir mussten alles abgeben, unsere Wertsachen und Kleidung, außer Unterwäsche“, sagt Sofia Martins.
Unangenehm sei es nicht gewesen. Die Einsatzkräfte hätten sich bemüht, dass sie und die anderen Betroffenen sich trotz der Umstände wohlfühlten. Sie sorgten zum Beispiel für Duschgel, neue Kleidung, warme Decken.
Dann ging es für alle Kontaminierten mit dem THW in die Münchriedhalle. Hier wurden sie von Ärzten nach ihrem Wohlbefinden und Symptomen befragt. Außer Kopfschmerzen und Druck auf den Augen hatten die 19-jährige Sofia Martins und ihre gleichaltrige Arbeitskollegin Ornella Berisha nichts zu beklagen.
Opfer klagen über Kratzen im Rachen
Auch anderen Betroffenen, mit denen sie gesprochen hatte, sei es gut gegangen, wie Martins schildert. „Einige wollten einfach nur zurück nach Hause“, sagt sie. Intensiver hätten sich die Ärzte den direkten Opfern der Gas-Attacke gewidmet. Diese hätten Beschwerden wie Kratzen im Rachen oder juckende Haut geäußert.
Da die beiden medizinischen Fachangestellten keine solcherlei Symptome hatten, gaben die Ärzte grünes Licht: Sie galten nicht mehr als kontaminiert und durften gehen. Gegen 21.30 Uhr wurden sie mit anderen entlassen. Kleidung und Wertsachen seien ihnen mitgegeben worden.
Die Polizei spricht inzwischen von sechs Personen, die leichte Beeinträchtigungen durch den Stoff erlitten hätten. 20 Personen galten als kontaminiert, aber nicht als verletzt.
Im Nachgang kommen Sorgen hoch
Die 19-Jährige zeigt sich beeindruckt vom Engagement der Einsatzkräfte: „Die haben in kürzester Zeit so viel für uns auf die Beine gestellt“, lobt Sofia Martins. Für Essen, Trinken und Schokolade sei gesorgt gewesen.
Am Tag danach sei Sofia Martins wie gewohnt zurück zur Arbeit gegangen. Ihr und ihren Arbeitskollegen gehe es nach wie vor gut. Die Erinnerungen hängen ihr jedoch nach. „Was, wenn der Stoff wirklich gefährlich gewesen wäre. Es hätte mit uns vorbei sein können“, sagt Martins. Sie sei froh, dass der Albtraum nun vorbei sei.