Vor mehr als 80 Jahren zogen Schlägertrupps durch die Straßen in Baden, in Württemberg und im Rest des Deutschen Reiches. In jener Nacht, vom 9. auf den 10. November 1938, „wurden Synagogen zerstört, jüdische Geschäfte geplündert, und unzählige Menschen ihrer Würde und ihres Lebens beraubt“, erinnerte Ulf Weber, Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Stockach in seiner Rede bei einer Gedenkfeier zur Reichsprogromnacht.
Dafür trafen sich am vergangenen Samstag insgesamt 70 Mitglieder der Katholischen Seelsorgeeinheit, der Evangelischen Kirchengemeinde, der Freien Christengemeinde, der Freien Evangelischen Gemeinde und der Neuapostolischen Kirche. Sie wollten gemeinsam an das Schicksal der jüdischen Familie Weil erinnern, das stellvertretend für das Leid der jüdischen Gemeinschaft in Stockach und bundesweit steht.
Nach Erstem Weltkrieg noch geehrt
„Diese Nacht markiert den Beginn eines unfassbaren Leids und mahnt uns, die Opfer nicht zu vergessen und für eine friedliche Zukunft einzutreten.“ Mit diesen Worten wandte sich Weber nach eigenen Angaben an die Teilnehmenden, welche sich mit Kerzen um den Stolperstein in der Hauptstraße 8 versammelten.
In jener Nacht, genau an dieser Stelle in Stockach, wohnte die Familie Weil längst nicht mehr in ihrer Wohnung. Julian Windmöller, Leiter des Stadtmuseums und Stadtarchivs, gab Einblicke in das Schicksal der Stockacher Familie. Zu dritt wohnten Hermann Weil Junior, Inhaber eines Textilgeschäfts, seine Mutter Jenny Weil und seine Ehefrau Johanna Weil in der Hauptstraße 8. Im Januar 1915 zog Hermann Weil Jr. in den Ersten Weltkrieg, überlebte und erhielt für seine Taten das Eiserne Kreuz und die Badische Tapferkeitsmedaille.
Auch im Anschluss war er politisch engagiert und im Vereinsleben der Stadt aktiv. 1936 – nach Erstarken der NSDAP – wurde er zur Geschäftsaufgabe gedrängt. Sein Lehrling übernahm den Laden.
Was in der Reichspogromnacht geschah
Familie Weil konnte zunächst weiterhin im Haus wohnen. Zwei Jahre später mussten sie auf Drängen der NSDAP-Kreisleitung das Haus verlassen. Die Familie fand schließlich ein neues Zuhause in Wangen auf der Höri. Dann stand die SS vor der Tür. Hermann Weil Jr. wurde in der Reichpogromnacht entführt, misshandelt und ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Seine Frau konnte ihn jedoch wenig später mit Verweis auf seine Kriegsauszeichnungen freibekommen und kurz darauf floh die Familie in die USA. Sie haben überlebt, was vielen jüdischen Familien nicht möglich war.
„Trotz der guten Integration in die Stockacher Gemeinde bot das der Familie keinen Schutz“, schlussfolgerte der Pastor der Evangelischen Gemeinde, Oliver Holler.
Antisemitismus ist auch heute noch aktuell
Es sei eine sehr würdige und nachdenkliche Veranstaltung gewesen, die durch „gut ausgewählte Stücke“ des Posaunenchors – Blechbläser Ensemble 2012 des Kirchenbezirks Überlingen-Stockach – begleitet wurde, resümiert Windmöller am Montag. Rückblickend sieht der Leiter des Stadtmuseums und Stadtarchivs in der Gedenkfeier „keine rein historische Veranstaltung“. Die Vergangenheit mahne die Menschen noch heute, „Antisemitismus ist nach wie vor aktuell“.
Der Blick wurde am Abend auch nach Amsterdam gerichtet, wo wenige Tage zuvor propälestinensische Demonstrierende jüdische Fußballfans durch die Stadt jagten. „Es ist wichtiger denn je, zu gedenken und als christliche Gemeinde die mahnende Stimme zu erheben, um sich miteinander aktiv für Minderheiten einzusetzen“, schlussfolgert Windmöller. Pfarrer Weber bedankte sich bei den Teilnehmenden, „gemeinsam ein Zeichen für Frieden, Menschlichkeit und Toleranz zu setzen“. Und wie die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer (103) jüngst bei einer Preisverleihung appellierte: „Seid Menschen!“