Der 18. Dezember 1973 hat sich bei ihm tief in das Gedächtnis eingebrannt. An diesem Tag ist Cemal Arslan in Deutschland angekommen – aus dem türkischen Izmir ins badische Villingen. Genau 14,5 Jahre ist er damals alt.
„Ich mag Villingen“
Nun lebt er seit über einem halben Jahrhundert hier und hat gute Erfahrungen mit seinen damaligen deutschen Gastgebern gemacht. „Ich mag Villingen“, bekennt er. „Villingen-Schwenningen“, setzt er schmunzelnd hinzu.
Schon fünf Jahre hatte sein Vater seit 1965 allein in Deutschland gewohnt, arbeitet auf dem Bau. Dann rebelliert die Mutter in der Türkei: „Entweder Du holst uns nach Villingen oder kommst zurück.“ 1970/71 reist der größte Teil der Familie nach Villingen, Cemal Arslan, der fünfte von den sieben Kindern, erst nach dem Ende der türkischen Schule zwei Jahre später.
Ohne Deutschkenntnisse gestartet
„Mit null Deutschkenntnissen“ fasst Arslan im Schwarzwald Fuß. Das gelingt ihm sehr gut, auch wenn er nicht einen Tag eine deutsche Schule besucht hat. „Das musste ich nicht, ich hatte ja einen Abschluss.“
Geholfen hat ihm sicherlich, dass er schon schnell einen Job bei der damaligen Druckerei Schnurr findet – in der Verpackungsabteilung unter lauter Frauen. Da bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als sich für den täglichen Small Talk einen Grundwortschatz anzueignen.
Das Kino verbessert sein Deutsch
Zudem mag er Filme, er sei selbst sehr bilderaffin, sagt er von sich. Das habe er bereits in der Türkei bemerkt und das setzt sich in VS fort. Mit einer wahren Begeisterung geht er ins Kino, damals übrigens noch ins Theater am Ring, auch weil er durch die Filme sein Deutsch weiter verbessert – ein willkommener Nebeneffekt
Später, zu Beginn der 1980er Jahren, entdeckt er das Kommunale Guckloch-Kino für sich. Dort wird er dann auch angesprochen: „Du könntest doch bei uns mitmachen.“ Diese Einladung nimmt Arslan gerne an, noch heute ist er im Villinger Kommunalen Kino aktiv.
Der Blondschopf kommt gut an
Alltagsrassismus, Ablehnung: Ist ihm das jemals entgegengeschlagen. Nein, betont er. Vielleicht half ihm in dieser Zeit einfach, dass er blond gewesen sei, sagt der inzwischen grauhaarige 65-Jährige.
Mit einem Blondschopf unter ihresgleichen rechneten auch viele Türken nicht. In den Sommerurlauben bei Izmir werde er immer wieder auf Deutsch oder Englisch angesprochen, da ihn die Türken für einen Touristen halten.
In der Familie wird Mazedonisch gesprochen
Die Eltern selbst unterhalten sich in Deutschland mit ihren Kindern auf Mazedonisch, da die Familie ursprünglich türkischstämmige Mazedonier waren. Nach der Auflösung des osmanischen Reiches waren die Großeltern in die Nähe von Izmir gezogen.
In Villingen sind die Kinder oft dabei, wenn es darum geht, Formulare oder amtliche Schreiben zu übersetzen. Auch Cemal Arslan hat inzwischen sein Deutsch weiter verbessert und sich bei der Volkshochschule angemeldet, „vor allem der Grammatik wegen“.
Dann Deutscher geworden
Als Schnurr-Druck im Jahr 2000 in Insolvenz geht, hat Arslan etwas Zeit, bevor er bei der Druckerei Leute weiterarbeitet. Er stellt die Unterlagen zusammen, um Deutscher zu werden. Das sei flott gegangen, erinnert er sich.
Damals muss er aber auf die türkische Staatsbürgerschaft verzichten. Seinen Pass gibt er im Generalkonsulat ab, seine Lebensentscheidung hat nun auch offiziellen Charakter.
Blaue Karte für die Türkei
Heute hätte er die Möglichkeit, eine Doppelstaatsbürgerschaft zu beantragen. Ob ihm das lieber wäre? Nein, sagt er, so wie es sei, „ist es in Ordnung“. Wer in der Türkei geboren ist und später auf die Staatsbürgerschaft verzichtet, erhält die Blaue Karte, die ihm in der Türkei sehr weitgehende Rechte einräumt. Das reiche ihm, sagt Arslan.
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Und wo fühlt er sich daheim? „Hier in Villingen!“ Die Stadt sei nicht zu groß und nicht zu klein. „Sie ist genau richtig für mich.“ Jedes Mal, wenn er von der Berlinale aus der Hauptstadt nach Villingen zurückfahre, freue er sich.
Jetzt in der Rente sei er zweimal im Jahr etwa zwei bis drei Monate in der Türkei. Auch das sei nicht immer einfach, denn zum ersten Mal lernt er das Alltagsleben kennen. Was früher, wenn er nur in den Ferien dort war, so nicht möglich war.
Keine Diskussion über Politik
Doch was sagt er zu brisanten Themen, die sowohl in der Türkei, als auch in Deutschland regelmäßig für Emotionen sorgen, Politik oder Fußball? „Ganz ehrlich“, das interessiere ihn nicht. Er habe sein Herz an die Filmkunst verloren, merkt er lächelnd an.
Lieblingsplatz im Venezia
Heute sitzt er oft im Eiscafé Venezia in Villingens Bickenstraße und blickt in die Fußgängerzone. „Ganz schön viel verändert hat sich hier“, bemerkt er. Hier fuhren in den 1970er-Jahren noch Autos durch die Stadt, jetzt nicht mehr. Andererseits seien auch eine Menge kleiner Läden aufgegeben worden.
Doch auch in der Türkei in Karsiyaka bei Izmir ist die Zeit nicht stehengeblieben. Viele Häuser sind neu entstanden. Früher habe es unzählige Gemüsegärten gegeben. Die seien weg. „Der ländliche Charakter ist verschwunden.“
Egal wo: wahre Freunde finden
Ein Jugendfreund treffe er aber immer noch, der ihn in all den Jahren immer begleitet und ihm geholfen. Und das sei in beiden Welten, in der türkischen und der deutschen, wichtig: „Nicht unbedingt viele, aber wahre Freunde zu finden.“