Zwei Worte bringen Familie Cannistras Welt an einem Tag im Herbst 2013 zum Einsturz. Gehirntumor, bösartig. In der Freiburger Uniklinik erfahren Michela und Antonello Cannistra aus Marbach, warum ihr zehnjähriger Sohn Giorgio kaum noch Kraft in den Händen hat, immer wieder erbricht und auf der Straße ständig gegen Mülleimer und Laternenmasten läuft. Der Grund ist ein fünfeinhalb Zentimeter großer Tumor in seinem Kopf, ein Glioblastom.

Der „Pickel“ im Kopf

„Pickel“ – so hatte der Neurologe in Singen, bei dem Giorgio zuerst untersucht wurde, den Tumor genannt. Familie Cannistra hat das beibehalten, um der Krankheit den Schrecken zu nehmen. Was geblieben ist: Die Erkenntnis, dass das Leben nach einer schweren Krankheit oft kompliziert bleibt und sich Patienten für ihre Interessen vehement einsetzen müssen.

Diagnose in Freiburg

Davon hatten die Cannistras aber noch nichts geahnt, als Giorgio im Herbst vor sieben Jahren in Freiburg in den Magnetresonanztomographen (MRT) geschoben wurde. Bei einer Biopsie wurde außerdem Tumorgewebe entnommen. Eine Woche dauert es, bis die Ergebnisse vorliegen.

Quälendes Warten

„Das Warten war schlimm“, erinnert sich Michela Cannistra. Dass Giorgios Beschwerden einen ernsten Hintergrund haben könnten, habe sie schon geahnt. Ein zunächst unbemerkter Schlaganfall sei das Schlimmste gewesen, was sie sich habe vorstellen können. Die Diagnose Gehirntumor habe ihr den Boden unter den Füßen weggerissen. „Du kannst ja nicht einfach auf Pause drücken“, sagt sie. „Die Welt dreht sich weiter und du musst für deine Kinder stark sein.“

Bestrahlung und Chemo

Kurz nach der Diagnose liegt Giorgio im Operationssaal. Eine Narbe an seinem Kopf erinnert noch heute an den Tag, als die Ärzte den „Pickel“ aus seinem Kopf schnitten. Daneben haben sich bereits zwei weitere, stecknadelkopfgroße Tumore gebildet. Sie werden nicht entfernt, sondern nach der Operation mit Bestrahlungen und Chemotherapie behandelt.

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Giorgio ist stark. Er zieht alle Therapien durch, hat vor allem das Ziel, schnell nach Hause zu kommen. „Die Chemo war schon schlimm“, sagt er heute. „Ich lag nur flach, habe gebrochen und hatte keine Kraft für gar nichts.“ Er lernt das Laufen neu, muss von Links- auf Rechtshänder umlernen, weil seine linke Hand seit der Operation gelähmt ist. Außerdem ist er bis heute gehbehindert und zu 50 Prozent schwerbehindert. Der Schüler nimmt es mit Humor. „Genau genommen bin ich eine halbe Portion“, sagt er und lacht.

Immer optimistisch

Mit seinen Einschränkungen geht der 17-Jährige offen um. „Ich hasse Mitleid“, sagt Giorgio. Und noch mehr hasse er es, angegafft zu werden. „Man kann mich einfach fragen, was los ist, dann erkläre ich es gerne.“ Einmal jährlich muss er zur Kontrolle ins MRT. Während seine Mutter schon Tage vorher nervös ist, legt sich der begeisterte Juventus-Turin-Fan entspannt in die Röhre. „Ich weiß, dass alles gut ist“, sagt er. Die zwei stecknadelkopfgroßen Tumore sind zwar noch da, aber sie sind stabil klein und sogar etwas geschrumpft.

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Mehr als ein halbes Jahr lang geht Giorgio nach der Diagnose nicht zur Schule. Damals hatte er gerade erst von der Marbacher Grundschule auf die Goldenbühlschule gewechselt. Wohl habe er sich nicht gefühlt, sagt er rückblickend. „Mir war alles zu groß, und ich glaube manchmal rückblickend, dass dieses komische Empfinden durch den Tumor ausgelöst wurde.“

Die Rektorin der Marbacher Grundschule bietet an, den jungen Krebspatienten noch einmal in der vierten Klasse aufzunehmen, damit Giorgio in gewohnter Umgebung und zusammen mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder Antonio zur Schule gehen kann.

Stundenweise Schule

Das Schulamt sei zunächst dagegen gewesen, weil eine Rückkehr in die Grundschule nicht vorgesehen sei, sagt Michela Cannistra. Erst als sich Giorgios behandelnder Professor aus Freiburg persönlich bei der Behörde für ihn einsetzt, darf Giorgio an seine alte Schule zurückkehren. Zumeist nur für ein paar Stunden, weil er von Krankheit und Therapie immer noch geschwächt ist.

Auf den Arm reduziert

Wie soll es im Schuljahr 2014/2015 weitergehen? „Keine Regelschule wollte Giorgio nehmen“, sagt Michela Cannistra. Man könne von Lehrern und den anderen Schülern nicht erwarten, dass sie ständig Hilfestellung geben, habe man ihr gesagt. „Das fühlte sich an, als wäre ich nur noch mein linker Arm und sonst nichts mehr“, sagt Giorgio. „Dabei konnte ich alles, außer Schnürsenkel binden.“

Training mit Rocky

Sein Vater besorgt die Soundtracks aus den Rocky-Filmen und einen Sandsack. Angefeuert von der Musik aus den Kult-Streifen um den Boxer Rocky Balboa trainiert Giorgio zu Hause, übt auf selbst gebauten Parcours das Laufen.

Nur Absagen

Die Christy-Brown-Schule in Villingen nimmt ihn zunächst auf. „Dort waren die nettesten Menschen, denen ich je begegnet bin“, sagt Giorgio. Doch er sehnt sich nach seinem alten Leben, möchte eine Regelschule besuchen. Nach unzähligen Absagen landet seine Mutter schließlich bei der Schwenninger Friedensschule einen Treffer. Einen Volltreffer, wie sich zeigen wird. „Ich fühle mich so wohl“, sagt Giorgio. Gerade hat er die letzten Prüfungen für den Hauptschulabschluss hinter sich gebracht. Das nächste Ziel hat er sich auch bereits gesteckt: den Realschulabschluss. Nur wo? Das ist noch offen. „An einer Regel-Realschule müsste er in der neunten Klasse einsteigen“, sagt seine Mutter. Doch Giorgio will keine Zeit verlieren. Er will durchstarten, einen Beruf lernen, eines Tages zu Hause ausziehen, selbstständig sein.

Teures Gutachten

Dazu gehört auch das Autofahren. Auch ein Punkt, bei dem der „Pickel“ Giorgio noch Jahre später Steine in den Weg legt. Den Sehtest hat er bestanden, den Erste-Hilfe-Kurs absolviert. Doch damit er den Führerschein machen darf, muss aufgrund seiner gelähmten Hand und des eingeschränkten Gesichtsfelds ein medizinisches Gutachten erstellt werden. Das an sich wäre nicht so schlimm, doch das Gutachten muss aus eigener Tasche bezahlt werden. „Die Kosten liegen zwischen 600 und 1000 Euro“, sagt Michela Cannistra. „Das finde ich schon heftig, er kann doch schließlich nichts dafür.“ Im Juli hat Giorgio einen Termin. Schon jetzt recherchiert seine Mutter, welche Fahrschulen die Ausbildung mit Automatikgetriebe anbieten.

Leben vom Ersparten

Sie hätte sich rückblickend mehr Unterstützung gewünscht. „Ganz viel muss man sich selbst zusammensuchen“, sagt sie. „Wir haben zum Beispiel erst 2016 erfahren, dass wir für Giorgio schon 2013 Pflegegeld hätten beantragen können.“ Nach der Diagnose und während der Behandlung in Freiburg lebte die Familie zunächst vom Ersparten. Michela Cannistra war krank geschrieben, ihr Mann schloss seine Autoglas-Werkstatt vorübergehend. „Er konnte nicht arbeiten. Er konnte nicht einmal darüber sprechen, was mit Giorgio los war“, erinnert sich die 41-Jährige.

Wertvolle Begegnungen

Die von Giorgios Krankheit geprägte Zeit sei aber auch von vielen wertvollen Begegnungen geprägt gewesen, von Freundschaft und der Hilfsbereitschaft bis dato fremder Menschen. „Wir haben auch Positives mitgenommen“, sagt sie. Oder wie Giorgio sagt: „Auch wenn es sich komisch anhört, bin ich froh um die Erfahrung. Früher war ich echt eine Mimose.“