Es ist nur eine winzige halbe Stunde. Rund 30 Minuten, 1800 Sekunden. In dieser kurzen Zeit wird aus Sofie Braun-Kühling, einer gesunden 43-jährigen Lehrerin, eine schwerkranke Frau. Bei Dietrich Krieger, 59 Jahre alt, beginnt es langsam. Leichter Schnupfen, Halskratzen, kaum mehr.

Heute, eineinhalb Jahre später, kann er noch immer nicht arbeiten. Anne Menton geht im Oktober 2022 zu ihrer vierten Corona-Impfung. Sie ist Ende 70, will alles richtig machen. Erst jetzt, im beginnenden Frühjahr 2024, hat sie das Gefühl, dass das Leben langsam wieder ein Stück weit normal wird.

Drei Menschen, drei Altersgruppen, drei unterschiedliche Schicksale. Doch sie verbinden auch drei wichtige Gemeinsamkeiten. Sie alle hatten vor langer Zeit Corona und sie leiden bis heute. Und: Sie alle wirken auf den ersten Blick wie das blühende Leben. Sie haben die „unsichtbare Krankheit“. Post Covid. „Kein Außenstehender kann verstehen, wie wir durchs Leben stolpern“, sagen sie.

Tausende im Landkreis sind betroffen

Post Covid ist eine Krankheit, die im Verborgenen viele betrifft. Dies zeigen beispielsweise die aktuellen Zahlen der Krankenkasse AOK: Im Schwarzwald-Baar-Kreis seien rund 2568 Versicherte der AOK Schwarzwald-Baar-Heuberg betroffen, so die jüngste Erhebung. Das entspreche rund 2,6 Prozent der dort Versicherten, so AOK-Sprecherin Elke Rauls.

Insbesondere nach einer schweren Infektion könnten die Beschwerden monatelang andauern. Aber auch milde oder symptomlos verlaufende Infektionen können Langzeitfolgen haben. Schwäche und schnelle Erschöpfung, eingeschränkte Belastbarkeit, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme sowie anhaltende Atem- und Muskelbeschwerden, Depressionen und Atemnot – die Beschwerden sind zahlreich und können einzeln oder auch in Kombination auftreten.

Warum Wecker plötzlich so wichtig sind

Dietrich Krieger hat in seiner Wohnung eine ganze Menge Wecker stehen. Diese, so erzählt er, brauche er ständig. Ein Beispiel? Wenn der 59-Jährige lüftet, stellt er sich einen davon. Weil er sonst nämlich schlicht und einfach vergisst, dass sein Fenster noch immer offen steht. Ein weiteres Hilfsmittel in seinem Alltag sind Listen. Viele Listen. Auf denen hält er alles fest, was ihm nicht entfallen darf. Und die Listen haben einen Extra-Platz – damit Krieger nicht vergisst, wo er sie hingelegt hat.

Dabei beginnt alles ganz harmlos. Im Oktober 2022 zeigt der Corona-Test den zweiten Strich an. Positiv. Offenbar ist es ein leichter Verlauf. Dietrich Krieger macht sich erst mal keine Sorgen. „Ich hatte schon Schnupfen, die schlimmer waren“, sagt er auch heute noch. Schlimm wird es erst Wochen später. „Bei der kleinsten Anstrengung kamen die Symptome wieder“, erzählt der 59-Jährige.

Verfahren vor lauter Erschöpfung

Die Corona-Erkrankung im Oktober 2022 hat dem technischen Angestellten Fatigue, auf Deutsch extreme Erschöpfungszustände, und starke Vergesslichkeit hinterlassen. Er, der früher 20 Kilometer wanderte, kommt nun zeitweise kaum noch um den Häuserblock. Verliert in Gesprächen den Faden. Ein Versuch, wieder zu arbeiten, endet damit, dass Krieger sich auf dem Heimweg vor lauter Erschöpfung zwei Mal verfährt.

Er hat sich übernommen – und genau das ist Gift für ihn. Überlastung straft Post Covid mit dem sprichwörtlichen Genickschlag. Immer. Manchmal am Folgetag, manchmal auch erst zwei, drei Tage später. Heute weiß Dietrich Krieger das. Deswegen führt er Tagebuch. Jede einzelne Aktivität wird darin verzeichnet, jede Reaktion darauf. „Pacing“ nennt sich diese Therapie in der Fachsprache: Auf diese Weise werden Grenzen erkannt und gesetzt und dann langsam, ganz langsam verschoben.

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Langsam, ganz langsam. Dies kennt auch Sofie Braun-Kühling gut. Glänzende blonde Locken, Blümchenkleid, ein ebenmäßiges Gesicht. Immer wieder hört sie, dass sie doch blendend und so gar nicht krank aussehe. „Das ist ein Kampf, den keiner ahnt“, sagt sie.

Sie führt ihn seit jenem Tag im Juni 2022. Morgens ist die junge Lehrerin noch in der Schule, alles scheint ganz normal. Plötzlich bekommt sie schwer Luft, „ich fühlte mich wirklich, wirklich schlecht“, erzählt sie heute. Auch bei Sofie Braun-Kühling ist nun der Corona-Test positiv. Sie bekommt über 40 Grad Fieber, nach einem EKG überweist ihr Hausarzt sie sofort ins Krankenhaus.

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Es ist der Beginn einer Geschichte mit vielen dunklen Kapiteln: Die drei Mal geimpfte Mutter von zwei Kindern hat eine Lungenembolie, Herzprobleme und kognitive Einschränkungen. Sechs Wochen lang kann sie nicht einmal mehr aufstehen. Ein halbes Jahr verbringt sie fast mehr im Krankenhaus bei Untersuchungen und bei Ärzten als anderswo. Herzkatheter, Stress-EKG, acht Tabletten an jedem Morgen gehören plötzlich zum Alltag. „Das hat mich völlig aus dem Leben genommen“, sagt sie.

Will auch heißen: Sachen, die einst völlig normal waren, werden plötzlich schier unüberwindlich. Sechs Monate lang ist Sofie Braun-Kühling nicht mehr Auto gefahren. „Ich wusste gar nicht mehr so genau, wie das funktioniert“, erzählt sie. Die Unterstützung ihrer Familie hilft ihr durch die schwerste Zeit, ist ihr Stütze bis heute.

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Eine Atemtherapie, Logopädie bringen Besserung. Tabletten muss die Pädagogin noch immer nehmen, „die werden wohl bleiben“, sagt sie. Noch heute geht ihre Herzfrequenz bei kleinen Anstrengungen hoch. Seit Januar arbeitet sie wieder in Teilzeit, wie früher auch.

Wie das klappt? „Ich bin immer noch sehr langsam, brauche Ewigkeiten und habe manchmal Schwierigkeiten beim Schreiben.“ Fast jeden Tag geht sie, muss sie über ihre Grenzen gehen. Doch am meisten zu schaffen macht ihr etwas ganz anderes: Sie, sie früher taff und gesellig war, sei nun ganz anders. „Es hat mich als Person verändert und das stört mich am allermeisten.“

Ein Ringen um das passende Wort

„Das kenne ich, ist bei mir auch so“, bekommt Anne Menton immer wieder zu hören, wenn sie von ihren Gedächtnisproblemen erzählt. Schließlich, so heißt es dann oft noch, sei man doch auch nicht mehr ganz so jung. Doch Menton, Ende 70, kann darüber nur den Kopf schütteln. „Das hier ist viel, viel schlimmer“, sagt sie. Die freundliche Dame, die einst um kein passendes Wort verlegen war, muss oft um den passenden Ausdruck ringen. Vor allem, wenn sie müde ist, sei dies bis heute so.

„Ich bin glücklicherweise nicht so schlimm dran“, meint Anne Menton. Nach der ersten Corona-Infektion ganz zu Beginn der Pandemie ist sie sehr lange sehr schlapp, erholt sich aber noch einiger Zeit wieder. Bis zu Impfung Nummer vier. Diese haut die Seniorin im Oktober 2022 um: Fatigue auch bei ihr, komplette Erschöpfung. „Ich hatte ständig ganz müde Beine und weiche Knie“, erinnert sie sich.

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Auch ihr hilft eine Atemtherapie schließlich weiter. „Da habe ich richtige Fortschritte gemerkt“, bestätigt sie. Heute, eineinhalb Jahre nach der Impfung, habe sie langsam das Gefühl, dass es wieder besser wird. Endlich. Das gilt auch für ihren Optimismus: „Ich bin hoffnungsvoll, dass es noch besser wird“, sagt Anne Menton.

Erschöpfung ist der Knackpunkt

Und Sofie Braun-Kühling und Dietrich Krieger? Krieger freut sich über kleine Fortschritte, ein paar Kilometer am Stück kann er schon wieder laufen. Jetzt, so erklärt er, hängt es noch an der Erschöpfung. „Wenn ich ausgeruht bin, merkt heute nicht mal mein bester Freund was.“ Doch die Konzentration kann er noch immer nur rund eine Stunde aufrechterhalten.

Sofie Braun-Kühling indessen hat sich entschieden, keine Untersuchungen mehr über sich ergehen zu lassen. „Ich kann mit dem leben, wie es jetzt ist“, sagt sie. Ohne Bitterkeit. „Vielleicht ist es ganz gut, dass ich es bekommen habe und kein anderer aus der Familie, weil ich keine Vorerkrankungen hatte und es überstehen konnte.“