Wenn Petra Bender von Lisas Kindheit spricht, schauen deren Augen nach unten. Als wollte sie den mitleidigen Blicken ausweichen. Auf ihre Kindheit angesprochen, zuckt sie mit den Schultern. „Weiß nicht“, sagt Lisa Winter (Name geändert) erst.

„Ich hatte niemanden“
Lisa Winter

Und fängt dann doch an, zu erzählen. Von ihrer überforderten Mutter, dem süchtigen, schizophren Vater und dem Gefühl auf dieser Welt ganz allein zu sein. Denn: „Ich hatte niemanden: keine Freunde, keinen familiären Halt“. Ein bisschen Mut brauchte es schon. Sich Hilfe zu suchen, sagt sie. Sich mit Petra Bender jemanden an ihre Seite zu holen.

Ganz unten

Bender ist eine von 40 ehrenamtlichen Paten, die im Rahmen des am Kreisjugendamt angesiedelten „Brückenbauer“-Projekts von „impuls“, Jugendliche begleiten, die nicht mehr weiterwissen. Die Unterstützung brauchen und durch andere Maßnahmen des Jugendamts nicht erreicht werden, weil die gesetzlichen Voraussetzungen für eine staatliche Hilfe nicht ausreichen. Eine Patin, die Lisa Winter vor vier Jahren kennenlernte. Als sie „ganz unten war“, wie sie sagt.

Winter will anonym bleiben, weil sie trotz ihrer Kindheit und ihrer eigenen psychischen Probleme, inzwischen in der Berufswelt Fuß gefasst hat, weil sie als Kinderpflegerin arbeitet – und Anfeindungen und Sanktionen von Eltern und Vorgesetzten fürchtet.

„Leider sind psychische Probleme noch immer ein Tabu“, sagt Bender. „Dabei ist niemand perfekt.“

Sie litt unter dem Schönheitswahn ihrer Mutter

Um Winters und Benders Geschichte zu verstehen, muss man weit zurückgehen. Und Winters Leben ist kompliziert. Geborgenheit, Liebe – solche Gefühle kannte die heute 24-Jährige lange nicht. „Meine Eltern haben sich oft, nein fast immer, gestritten“, sagt sie.

Das könnte Sie auch interessieren

Ihre Mutter sei überfordert gewesen, mit ihrem schwerbehinderten Bruder, ihrem psychischen kranken Vater und ihren eigenen Ansprüchen. Ihrem Schönheitsideal.

„Ich hatte immer Hunger“
Lisa Winter

„Solang ich denken kann, wollte sie, dass wir schön aussehen.“ Für Winter gab es ein strenges Fitness- und Diätprogramm. Die Folge: „Ich hatte immer Hunger.“ Auch Bender sagt, sie habe ihr Patenkind abgemagert kennengelernt. Und ihr Vater? Um ihn kümmert sich Winter noch heute. Er sei als schizophren diagnostiziert und dem Alkohol verfallen.

Endlich Halt bei der Patin

„Ich habe meinem Vater jetzt eine Pflegerin organisiert. Er sah verwahrlost aus“, sagt sie – und man wird den Eindruck nicht los, dass Winter viel Verantwortung trägt. Es schon immer musste. „Ich habe auch gespürt, dass ich traurig und depressiv war, dass ich es nicht mehr ohne Hilfe schaffe.“

Das könnte Sie auch interessieren

Das war damals im Jahr 2017, als Winter erst eine Psychotherapie macht, sich dann um einen Platz im Patenpatenprogramm „Brückenbauer“ bemüht und schließlich mit Petra Bender an ihrer Seite wieder Halt findet. Bender trifft sich mit ihr einmal die Woche, meist in Cafés, rät Winter Zuhause ausziehen, sucht mit ihr die erste eigene Wohnung und einen neuen Therapieplatz, nachdem Winters eigentliche Therapeutin in den Ruhestand geht.

Die Zweifel blieben

Und sie ist da, als Winter weinend, verzweifelnd anruft, weil sie glaubt, ihrer Ausbildung zur Kinderpflegerin nicht gewachsen zu sein. „Lisa war oft am Zweifeln. Dabei habe ich gemerkt, dass sie am richtigen Ort ist: Dass sie den Kindern etwas Gutes geben will, auch wenn sie das selbst nicht kennt“, sagt die Patin.

Wie sich eine Depression anfühlt – allein im dunklen Tunnel: Weil der Leistungsdruck zu hoch ist, meldet sich Lisa immer öfter ...
Wie sich eine Depression anfühlt – allein im dunklen Tunnel: Weil der Leistungsdruck zu hoch ist, meldet sich Lisa immer öfter krank, verliert ihren Job und macht eine Therapie. Symbolbild. | Bild: finwal89 - stock.adobe

Doch der Leistungsdruck – der mit den Prüfungen und Ausarbeitungen in der Ausbildung einhergeht – ist zu hoch. Nachdem dem Anerkennungsjahr und der ersten Stelle in einem Kindergarten, wird Winter depressiv. Sie meldet sich immer öfter krank, verliert ihren Job und lässt sich, als die Welt da draußen, im März 2020, in die Corona-Krise stürzt, in eine Tagesklinik einweisen.

„Auf Distanz ist es schwer, wirklich Hilfestellungen zu geben.“
Petra Bender

Bender hält den Kontakt, hilft ihr, als sie entlassen wird, bei der Suche nach einem Job – auch wenn das krisenbedingt alles andere als einfach ist. Denn: Winter findet nur eine Stelle als Putzkraft. Und wegen Corona kann sich Bender mit ihr kaum treffen. „Auf Distanz ist es schwer, wirklich Hilfestellungen zu geben.“ Die 24-Jährige hat sich nach der Therapie aber längst wieder gefangen. Ist voller Tatendrang und Mut.

Das könnte Sie auch interessieren

Beide sagen die Patenschaft sei eine Bereicherung. „Für mich war das wie ein Aha-Effekt“, erinnert sich Winter. „Ich habe gesehen, dass Petra auch ihre Last zu tragen hat. Dass ich nicht allein bin.“ Und Bender? Sie schätzt an ihrem Patenkind den eisernen Willen. „Lisa gibt nicht auf. Sie packt Dinge an. Und wenn man ihr einen Rat gibt, nimmt sie den auch ernst.“

Petra Bender ist seit vier Jahren an Winters Seite. Über die Patenschaft sagt sie: „Jeder verdient doch einen Menschen, der einem ...
Petra Bender ist seit vier Jahren an Winters Seite. Über die Patenschaft sagt sie: „Jeder verdient doch einen Menschen, der einem zuhört und ein Stück mit einem geht.“ | Bild: Daniela Biehl

Lisa ist dabei nicht Benders einziges Patenkind. Eine andere Patenschaft hat sie noch laufen. Eine zweite schon abgeschlossen. „Jeder verdient doch einen Menschen, der einem zuhört und ein Stück mit einem geht“, sagt sie. Ein solcher Mensch will sie für ihre Schützlinge sein.

Der entscheidende Gedanke kommt ihr vor vier Jahren, nicht lange bevor sie Lisa kennenlernt. Bender ist mit 58 Jahren plötzlich arbeitslos, hat Zeit und hört von ihren Freundinnen, sie könne gut mit Jugendlichen umgehen.

Geteiltes Glück und Erfolge, die nur bedingt messbar sind

Und dann ist da dieses Gefühl, dass ihr Glück doch für ein paar Menschen mehr reichen müsste. Dass sie etwas geben, anderen helfen könnte. Sie probiert es mit einer Patenschaft in der Flüchtlingshilfe, hört dann von „impuls“ und wechselt zum Brückenbauer-Projekt, wo Sozialarbeiterin Kerstin Lietzau, sie mit Lisa zusammenbringt.

Sozialarbeiterin Kerstin Lietzau (rechts) mit Christian Mayer, Sachgebietsleitung bei impuls.
Sozialarbeiterin Kerstin Lietzau (rechts) mit Christian Mayer, Sachgebietsleitung bei impuls. | Bild: Lietzau

Lietzau betreut das Programm fachmännisch auf einer 40-Prozent Stelle. „Die Ehrenamtlichen müssen keine Vorerfahrungen mitbringen“, sagt sie. „Wir führen sie langsam an die Aufgabe heran.“ Den Paten und Jugendlichen steht die Sozialarbeiterin darum auch jederzeit zur Seite – und organisiert für sie Fortbildungen etwa zu Themen wie Sucht, Arbeitsvermittlung und Kinder- und Jugendtherapie. Auch Patenabende, wo sich die Ehrenamtlichen untereinander kennenlernen und austauschen, wo sie Fälle besprechen, einander unterstützen, plant Lietzau.

Das könnte Sie auch interessieren

Der Erfolg des Projekts lässt sich nur bedingt in Zahlen abbilden. Zwar hätten zwei Jugendliche unter Patenbegleitung im letzten Jahr eine Ausbildung begonnen, während eine andere ihren Hauptschulabschluss schaffte – und auch Winter hat inzwischen wieder einen Job als Kinderpflegerin gefunden. Nicht messbar sind aber die Denkprozesse, die das Patenprogramm in Gang gesetzt habe. Der eigentliche Erfolg, wie Lietzau und Bender sagen.

Wenn die Patenschaft endet

Winter sieht es ähnlich: „Es ist viel passiert.“ Sie hat mittlerweile Freunde gefunden, einen Lebenspartner. Sie weiß besser mit ihrer Depression umzugehen und merkt: „Ich habe riesen Schritte gemacht.“ Als sie das erzählt, wirkt Bender zufrieden. Sehr zufrieden.

Das könnte Sie auch interessieren

Denn: Sie wird nur noch kurz Winters Patin sein. Schon im Spätsommer, wenn ihr Schützling 25 wird, endet das Patenprojekt, das sich an 15- bis 25-Jährige richtet. Doch: „Lisa kann das jetzt selbst“, sagt sie.