Wolfgang Pratscher, acht Jahre alt, hat in diesem Moment so richtig Lust auf Süßes. Er schleicht leise zur Zuckerdose und fängt an zu naschen. Einen Löffel, zwei Löffel, drei Löffel – lecker! Den Mund voll Zucker vergisst der kleine Junge ganz kurz die Welt um sich herum. Doch just in dem Moment wird er erwischt.
Eine Woche lang bekommt der Achtjährige fortan nur noch Zucker zu essen – morgens, mittags, abends, jeweils einen ganzen Teller voll.
Seine persönliche Zucker-Hölle ist im Jahr 2023 fast 60 Jahre her – doch Wolfgang Pratscher erinnert sich an fast jedes Detail, als wäre alles erst gestern passiert. Wie auch an zahllose andere, teils noch viel schlimmere Dinge aus seiner Kindheit. Der 68-Jährige aus Schwenningen wuchs im SOS-Kinderdorf Ammersee-Lech auf und wurde dort schwer misshandelt. Um eine Wiedergutmachung kämpft er bis heute.
„Mein Leben wurde kaputt gemacht.“Wolfgang Pratscher, ehemaliges SOS-Kinderdorf-Kind
Wolfgang Pratscher ist ein großer grauhaariger Mann mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen. In den Altenheimen in St. Georgen, Schonach und Schönwald ist er ein gerngesehener Bekannter, sorgt dort mit Akkordeon oder Gitarre regelmäßig für gute Laune bei den Senioren.
So verläuft seine furchtbare Kindheit
Doch tief in ihm drin, da sieht es es ganz anders aus. Traurig, verzweifelt, ja, zerstört. „Mein Leben wurde kaputt gemacht, ich konnte mir nichts aufbauen wegen all dem, was ich in meiner Kindheit erlebt habe“, sagt er.

Aber der Reihe nach: Wolfgang Pratscher wird 1955 in Aachen geboren. Seine Mutter, eine Edel-Prostituierte, gibt ihn sogleich im Kinderheim ab. Auch seinen Vater kennt er nicht – er ist Musiker, soll Pratscher später erfahren. Diese Leidenschaft hat er geerbt, sie wird ihm einmal durch seine dunkelsten Zeiten helfen.
Das Glück hält nur kurz
Doch zunächst hat Pratscher Glück. Eine freundliche Ordensschwester wird ihm zur liebevollen Ersatzmutter. „Das war mein Zuhause, es war dort einfach ein schönes Leben“, erzählt der 68-Jährige. Als der Junge acht Jahre alt war, endet diese schöne Zeit: Das Jugendamt entscheidet, ihn in ein SOS-Kinderdorf nach Bayern zu verlegen.
„Die Frau war von der ersten Stunde an nur grausam zu mir.“Wolfgang Pratscher, Missbrauchs-Opfer
„Du bist aber ein bockiges Kind“, sind die ersten Worte, die der weinende Achtjährige dort bei der Ankunft von der Frau zu hören bekommt, die seine neue Mutter werden soll. Der schlechte Start ist indessen nur der Anfang.
„Die Frau war von der ersten Stunde an nur grausam zu mir, sie hat mich nicht als Kind angesehen, sondern als Sklaven“, erzählt Wolfgang Pratscher. Er muss die komplette Hausarbeit erledigen, stundenlang auf den Knien Holzböden bohnern, fegen, wischen, Küchenarbeit. Auch die Schuhe aller insgesamt neun Kinder, die bei der Frau lebten, hat der Achtjährige täglich zu putzen.
Spielen darf er so gut nie, Schläge gibt es dafür oft.
Drei Peiniger sorgen für nackte Angst
Die Frau, die Pratscher heute als psychisch krank bezeichnet, ist jedoch nicht die einzige, die dem kleinen Jungen das Leben zur Hölle machte. Auch der Dorfleiter und sein Stellvertreter peinigen ihn. Der 68-jährige Schwenninger erzählt von Schlägen mit dem Bambusstock aufs nackte Gesäß, von sexuellem Missbrauch über viele Wochen, von Gewalt, Drohungen und einfach nur von nackter Angst.
Eine der Folgen: In der Schule kommt der Junge nicht mehr mit. Zu voll ist sein Kopf mit schlimmen Erinnerungen und Furcht. „Ich konnte nicht lernen, ich konnte nur daran denken, dass ich dort weg wollte „, sagt er heute.
Der Lebenstraum zerplatzt
Er schreibt nur schlechte Noten, wird gehänselt und gemobbt. Sein großer Traum, zu studieren und Musiklehrer zu werden, zerplatzt. Wolfgang Pratscher arbeitet als Kraftfahrer, gibt nebenher Musikunterricht für wenig Geld.
Auch deswegen kämpft der Schwenninger um eine Entschädigung. „Wenn man mir in meiner Kindheit nicht die Intelligenz aus dem Leib geprügelt hätte, müsste ich heute nicht von einer kleinen Rente leben und hätte ein Vermögen aufbauen können“, sagt er. Der 68-Jährige bekommt etwa 1000 Euro monatlich, muss nebenher arbeiten, um über die Runden zu kommen.
300.000 Euro fordert Wolfgang Pratscher nun von der SOS-Kinderdorf-Organisation. Zahlreiche Male hat er deswegen in den vergangenen Jahren ausgesagt und sein Schicksal geschildert, zuletzt im Februar 2023 vor der Unabhängigen Kommission in Fulda.
So reagiert das SOS-Kinderdorf
Ein Kampf gegen Windmühlen, so empfindet er es oft – bislang erhielt er lediglich einige tausend Euro und ein Entschuldigungsschreiben. Der Absender: Sabina Schutter, aktuelle Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf Deutschland.
„Ich weiß, dass eine Entschuldigung nicht ausreichen kann, um dem gerecht zu werden, was Ihnen widerfahren ist.“Sabina Schutter, Vorstandsvorsitzende SOS-Kinderdorf Deutschland
„Das Leid, das Unrecht, das Ihnen widerfahren ist, kann ich nie wiedergutmachen“, schreibt Schutter, die seit März 2021 im Amt ist.
„Ich setze mich mit aller Kraft dafür ein, vergangene Fälle des Unrechts gegenüber Betreuten bei SOS-Kinderdorf aufzuarbeiten und zu verhindern, dass es in Zukunft zu Gewalt und Übergriffen gegen Kinder kommt“, so die Vorstandsvorsitzende unter anderem weiter. Und: „Ich weiß, dass eine Entschuldigung nicht ausreichen kann, um dem gerecht zu werden, was Ihnen widerfahren ist.“
Das sagt SOS-Kinderdorf ...
Das sieht auch Wolfgang Pratscher so: „Das ist nicht genug als Ausgleich für ein zerstörtes Leben“, sagt der Schwenninger. „Ich will endlich einen Schlussstrich ziehen, die Zeit nicht immer wieder durchleben.“
Er will mit seinem Akkordeon inmitten der St. Georgener Senioren sitzen und einfach nur die Musik und die Stimmung genießen. Ohne den ständigen Stachel im Hinterkopf. Und er will mit seinem Gang an die Öffentlichkeit aufrütteln und dabei helfen, dass kein Kind in einem SOS-Kinderdorf mehr ähnliches erleben muss.
Doch Zucker – den wird Wolfgang Pratscher wohl nie ganz ohne Stich ins Herz einfach nur in seinen Kaffee schütten können.