Zwei etwas andere Tagebücher erinnern Sarah Schleicher an das, was sie erlebt hat: die Tattoos auf ihrer Haut und die Fotos auf ihrem Instagram-Kanal. Beides vergleicht die 33-Jährige mit einem Tagebuch. Die Tattoos und die Fotos sollen ihr in Erinnerung rufen, was sie längst verinnerlicht hat. „Dass es weiter geht.“ Auch nach Jahren voller Mobbing und Ausgrenzung. „Wenn du nur bleibst, wer du bist.“
Ihr Körper ist mittlerweile fast voll tätowiert. Ihr Instagram-Account zählt über 350 Beiträge. Sarah Schleicher ist das, was man heute eine Influencerin nennt. Rund 20 000 Menschen folgen ihr auf dem sozialen Netzwerk. Für sie ist Schleicher „Vorbild, Ratgeberin und Orientierungshilfe“, wie es die 33-jährige selbst beschreibt. Auf Instagram teilt sie ihr Leben, gibt Beauty-Tipps, wirbt für Produkte, die ihr durch Kooperationen zugeschickt werden, und engagiert sich mit Meinungsbeiträgen und Spendenaktionen für Frauen in Not, gegen Ausgrenzung und Gewalt und für eine antiautoritäre Erziehung von Kindern.
50 bis 70 Instagram-Nachrichten an manchen Tagen
„Ich war schon immer eine Person, die es mochte, in der Öffentlichkeit zu stehen“, sagt Schleicher, als sie den SÜDKURIER bei sich zuhause begrüßt. „Und ich wollte immer anderen helfen.“ Sie sieht fröhlich aus, wie jemand, den man gerne um Rat fragt.
Draußen, vor ihrer Wohnung in Schwenningen, bläst der Wind kalt um die Ecken, es schneit – kein gutes Wetter für ein Shooting. Und trotzdem war Schleicher erst vor ein paar Stunden im schwarzen Rollkragenpulli und mit Vintage-Gucci-Tasche im Wald, um auf einer Lichtung für eine Kooperation mit einem Modeladen ein gutes Foto zu schießen.
Für den Laden wird sie auf Instagram Werbung machen. Die Handtasche darf sie dafür behalten. Eine Kooperation mit Influencern laufe oft so ab, sagt Schleicher. Die Produkte, die sie erhält, sind ihre Bezahlung. Eine professionelle Fotografin, die mittlerweile eine gute Freundin sei, macht dann die Bilder.

Und die sollen vor allem eins: ästhetisch sein. Schleicher mag es so. „Und für ein gutes Foto friere ich auch mal“, sagt sie. Doch jetzt hat es sich die 33-Jährige gemütlich gemacht. Im Wohnzimmer am Esstisch flackert eine Kerze, und Schleicher sitzt, die Beine übereinandergeschlagen, davor. Das Smartphone griffbereit. Als Instagram aufleuchtet, weiß sie, dass ihr wieder jemand geschrieben hat. Bis zu 70 Nachrichten sind es an manchen Tagen.
Es sind Nachrichten von Followern, die sich mit ihr über ein Thema austauschen oder schlichtweg jemanden zum Reden brauchen. „Heute ist es ruhiger.“ Erst zehn Nachrichten, das könne man gut beantworten. Werden es mehr, braucht sie schon einmal zwei Tage dafür. Denn: Instagram ist nur ihr Nebenverdienst. Und Schleicher ist eigentlich Optikerin. In Vollzeit.
Als Teenager wurde sie gemobbt
Wenn sie davon erzählt, wie sie auf Instagram groß geworden ist, klingt das ein wenig, als sei sie einfach hineingestolpert in diese Welt aus Bildern. „Das war mein Ausgleich zur Arbeit. Ich habe das einfach ausprobiert“, sagt Schleicher dann. „Ich habe auf Instagram meinen Alltag in Bildern geteilt und meine Follower mit der Kamera mitgenommen, wenn ich unterwegs war. Und es war mega schön, dass ich auf der Plattform so sein konnte, wie ich bin.“
Denn: Das konnte Sarah Schleicher nicht immer. Weil sie als Teenager anders als die anderen gewesen sei, weil sie durch ihren Kleidungsstil – „ich habe modisch viel gewagt“ – und ihr Verhalten polarisierte, fingen ihre Freundinnen in der Schule an, sie zu mobben. Wann genau es begann, dass die Mädels über sie lachten, sie Hakennase nannten und sie mit Papierkügelchen abwarfen, kann Schleicher heute nicht mehr sagen. Sie schätzt: „Ich muss 13 gewesen sein.“
Zur Schule ging sie jedenfalls nicht mehr gern. „Ich habe nur noch geheult.“ Als ihre Ex-Freundinnen ihr die Haare einmal mit Kaugummi verklebten, musste sie sich eine Kurzhaarfrisur schneiden lassen. „Für mich war das schlimm. Ich habe meine Haare geliebt, aber den Kaugummi haben wir nicht mehr rausgekriegt.“
Mit „wir“ meint sie sich und ihre Eltern. Die waren damals ihr einziger Rückhalt. „Es war auch meine Mutter, die mich überredet hat, eine Therapie zu machen und die Klasse zu wiederholen.“ Das Mobbing habe damit aufgehört. Doch Spuren, die Narben, die das in ihrer Seele hinterlassen hat, seien nie ganz verschwunden.
Das Herz auf der Zunge und verletzlich zugleich
„Ich bin heute tougher und stehe wieder auf, wenn ich falle, aber ich habe das nicht vergessen“, sagte die 33-jährige. Sie zieht ihren Pullover so weit runter, dass er ihre Hände bedeckt, winkelt die Beine an und verkriecht sich in ihrem Stuhl. Es sind ihre zwei Seiten: Unangepasst und extrovertiert, mit dem Herz auf der Zunge. Und verletzlich zugleich.
Das merkt man auch, als sie von ihren Modeljobs erzählt. lange bevor Schleichers Instagram-Account so groß wurde, modelte sie schon, etwa für Orthopädiefirmen. Und sie sagt: „Ich habe früher davon geträumt, zu ,Germany‘s Next Topmodel‘ oder ,Deutschland sucht den Superstar‘ zu gehen“, um dann im nächsten Atemzug hinzuzufügen: „Aber ich habe mich das nie getraut.“
Als Jugendliche sei es nicht nur das Modeln gewesen, das Sarah Schleicher faszinierte, sondern auch das Singen. In Schwenningen war sie im Chor, trat öffentlich auf, bis vor gut 15 Jahren ihr Opa starb. Auf seiner Beerdigung hatte sie „Yesterday“ von den Beatles gesungen. „Und irgendwie hat das was mit mir gemacht. Ich kann seither nicht mehr öffentlich singen.“ Aber die Sehnsucht nach diesem einen Gefühl, gesehen und bewundert zu werden, sei geblieben. Und Instagram gebe ihr das. „Zumal ich mit meiner Geschichte anderen helfen kann“, sagt Schleicher.

Wirft man einen Blick auf ihr Instagram-Profil, wirkt das zunächst wie eine perfekt kuratierte Ausstellung. Schleicher steht mit Sonnenbrille im Schnee und leicht bekleidet bei Sonnenuntergang auf einem Feld. Sie macht ein Selfie mit ihrem Mann, zeigt ihren tätowierten Körper und Bilder eines Shoppingausflugs. Die Texte unter ihren Fotos und die angesprochenen Themen in ihren Videostorys sind aber oftmals ernster Natur.

So geht es um ihren dreijährigen Sohn und das Gefühl, manchmal nicht genug Mutter zu sein. „Auch ich habe Selbstzweifel. Ich dachte, ich versage als Mama voll und ganz“, schreibt sie unter eins ihrer Fotos. Sie hatte versucht, ihren Sohn ans Töpfchen zu gewöhnen und das Gefühl, den Kleinen zu sehr unter Druck zu setzen. Manchmal geht es auch um Gewalt an Frauen oder um Mobbing. Und immer wieder erhält Schleicher Nachrichten von Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Die bei ihr Rat suchen. Denen sie Mut machen will.
Den wichtigsten Ratschlag hat sie sich tätowiert
Wie sie mit dieser Verantwortung umgeht? Sarah Schleicher nimmt sich ein paar Sekunden Zeit, um nachzudenken. „Es ist schon eine gewisse Verantwortung“, sagt sie dann. „Deshalb ignoriere ich keine Nachrichten. Nur die bösen, in denen ich beschimpft werde. Aber eigentlich kriegt jeder eine Antwort.“ Angst davor, einen falschen Rat zu geben, hat Schleicher nicht.
Ihren wichtigsten Ratschlag hat sie sich unter die Haut stechen lassen. „Ich lebe jetzt“, prangt auf ihrem linken Schulterblatt. Es war ihr erstes Tattoo. Und ein Bekenntnis zum Leben.