Ralf Enders (Name geändert) suchte weder eine Partnerin noch ein Abenteuer. Er erwartete eine harmlose Plauderei, als er auf die Nachricht von „Cherry Sweat“ antwortete. Der 58-jährige Vorarlberger arbeitet im Thurgau als Verfahrenstechniker. Eine hübsche Chinesin hatte ihn über das Job-Netzwerk LinkedIn angeschrieben.

Sie lebe in Houston, Texas, führe dort einen Schönheitssalon, jogge jeden Morgen und praktiziere Yoga. Die junge Frau wirkte ehrgeizig und dynamisch, das gefiel ihm. Schnell kommen sie sich näher, tauschen sich aus über Schicksalsschläge, das Leben, Katzen. Cherry schickt Fotos: sie in einer Bar, im Auto, auf dem Bett, alles chic, alles perfekt. Ob die Frau auf den Fotos auch die ist, mit der er so oft gechattet und ein paar Mal telefoniert hat, weiß Ralf Enders bis heute nicht.

Bald bringt Cherry ihren Onkel ins Spiel, der sei Chefanalyst einer großen Bank gewesen und kenne immer noch gute Insidertipps. Vor allem mit dem schnellen Kauf und Verkauf von Gold habe sie schon fette Gewinne erzielt. „Ich möchte, dass du auch davon profitierst“, schreibt Cherry. Sie schickt Enders Screenshots von ihrem Trading-Konto.

Heute sagt der 58-Jährige: „Ich war zu gierig“

Er ist interessiert, aber auch skeptisch. Da schlägt sie vor, er solle mit einer kleineren Summe starten. Als Test. Er bringe ihr Kochen bei und sie ihm dafür Online-Trading. Enders denkt, „Warum nicht?“, und überweist 5000 US-Dollar. Die Transaktion ist kompliziert, er hat keine Ahnung von Online-Trading. Doch Cherry schreibt: „Honey, ich nehme dich an der Hand.“

Er meldet sich nach ihren Anweisungen bei einer Online-Broker-Plattform an und installiert die Aktienhandels-App Metatrader 5. Was Enders nicht weiß: Sie ist leicht zu manipulieren. Ralf Enders und Cherry tauschen sich jetzt nicht mehr über LinkedIn aus, sondern über WhatsApp. Ihr Ton wird zärtlicher. Sogar eine gemeinsame Zukunft scheint möglich.

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Der Plan ist, dass sie schnell viel Geld machen, dann käme sie zu ihm in die Schweiz. Es scheint zu funktionieren. Das digitale Konto von Enders zeigt schon kurz nach der ersten Überweisung mehrere 100 Dollar Gewinn an. Er ahnt nicht, dass alles, was er sieht, nur Täuschung ist. Doch er hat Blut geleckt. „Cherry, ich will mehr Geld machen“, schreibt er ihr und überweist nochmals 5000 US-Dollar.

Heute sagt der 58-Jährige selbstkritisch: „Ich war zu gierig.“ Wie in Trance schickt er weitere 15.000 Dollar an den digitalen Broker. Sein Gewinn beträgt jetzt schon 3000 Dollar. Doch die Skepsis lässt sich nicht ganz wegdrücken. Enders beschließt, einen Teil des Geldes auf sein Schweizer Konto zu holen. Nach mehreren Anläufen klappt es. Dreimal überweist er sich je 100 Dollar.

Cherry lacht über den „lächerlichen Betrag“

Er ist erleichtert, will einen größeren Betrag zurückholen. Doch plötzlich ist das Konto blockiert. Das Serviceteam der Broker-Plattform erklärt ihm, er müsse ein Risiko-Depot von 10.000 Dollar zahlen, bevor er auf sein Geld zugreifen könne. Die Alarmglocken läuten. Doch der im Thurgau arbeitende Vorarlberger will sich nicht eingestehen, dass er betrogen wurde.

Cherry lacht über seine Zweifel und den „lächerlichen Betrag“, um den er sich sorge. „Glaube mir“, schreibt sie ihm, „ich trage die Verantwortung für all das.“ Enders überweist das Geld, dann versucht er erneut, einen Teil davon auf sein Schweizer Bankkonto zu holen. Wieder ist der Transfer blockiert wegen eines angeblichen Risikos. Nun soll er 20.000 Dollar zahlen. Er wird panisch.

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Wie ein Ertrinkender klammert er sich an jeden Strohhalm – und nimmt ein Darlehen auf. 20.000 Dollar fließen zu den Betrügern. Doch das Konto bleibt blockiert. Wegen „abnormer Bezüge“. Die Kriminellen überspannen den Bogen. Diesmal wollen sie 58.000 Dollar, erst dann erhalte er Zugriff auf sein Konto. „Ich habe kein Geld mehr“, schreibt Enders an Cherry. Sie schickt Smileys zurück. Endlich gesteht er sich ein, dass er betrogen wurde. Als er Cherry damit konfrontiert, gibt sie es zu: „Ja, die Leute haben das ganze Geld.“

Am 26. Juli 2022 reicht Ralf Enders bei der Kantonspolizei Thurgau eine Strafanzeige gegen unbekannt ein. Er hat über 55.000 Euro verloren. Die Thurgauer Staatsanwaltschaft eröffnet eine Strafuntersuchung, die wegen der geringen Erfolgsaussichten nach einigen Monaten eingestellt wird.

55.000 Euro! Der Betrogene will sein Geld wieder

Enders nimmt sich vor, alles zu tun, um sein Geld zurückzuholen. Bei 20 Behörden erstattet er Strafanzeige, darunter Interpol, Hongkong Police, FBI und verschiedene Bankenaufsichtsbehörden. Manchmal bekommt er nicht einmal eine Antwort. Die Hongkong Police schreibt, sein Konto sei leer. Die Strafklage müsse er vor Gericht in Hongkong persönlich vertreten, damit man seinen Fall an die Hand nehmen könne.

Der 58-Jährige ist enttäuscht. Er hat alles dokumentiert, die Geldflüsse, Mailadressen, Telefonnummern. Er habe sein Geld nicht verzockt, es sei ihm gestohlen worden: „Obwohl man den Weg des Geldes verfolgen könnte, wird nichts unternommen.“ Er hat sich einen Anwalt aus Berlin genommen, der auf Cybercrime spezialisiert ist.

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Doch die Betrüger sind noch nicht fertig mit ihm. Unaufgefordert melden sich nun „Retter“, die behaupten, sie könnten sein Geld zurückholen. Eine dieser dubiosen Firmen schreibt, sie werte für die Polizei beschlagnahmte Computer aus, dabei sei sie auf seinen Namen gestoßen. Wieder sieht alles täuschend echt aus, Websites, Logos, bis hin zu den Namen, die meist von realen Firmen kopiert werden. Natürlich soll Enders zuerst wieder zahlen.

Ida Sandl ist Reporterin unserer Partnerzeitung, der „Thurgauer Zeitung“.