„Judenhass im beschaulichen Thurgau – und alle schauen weg. Das geht nicht!“ Chris Faschon macht seinem Ärger Luft. Der 47-Jährige ist Kreuzlinger und Jude. Am Tag nach dem 7. Oktober 2023 – dem Tag des Überfalls der Hamas auf Israel – hat Chris Faschon eine Israel-Flagge in sein Fenster gehängt. Versehen mit einer gelben Schleife, welche an die verschleppten Geiseln erinnert.

„Ich bin zwar jüdisch, aber ich hätte das genauso gut auch als Zeichen für Demokratie, für eine freiheitliche Gesellschaft und aus Solidarität tun können“, sagt er, der sich selbst als nicht sehr gläubig oder fromm bezeichnet, sondern als säkular. Für den Terroranschlag der Hamas findet er die folgenden Worte: „Das wahr gewordene Grauen.“

Chris Faschon berichtet von seinen Erfahrungen mit Antisemitismus.
Chris Faschon berichtet von seinen Erfahrungen mit Antisemitismus. | Bild: Urs Brüschweiler

Trotz der Rollos und des vorgelagerten Balkons ist die Flagge von der viel befahrenen Straße, an der Faschon in einem Mehrfamilienhaus wohnt, erkennbar. „Free Palestine“-Rufe hört er eines Abends. Gefolgt von „Jude, verrecke!“ So tönt es lautstark in seine Richtung. Die Schreihälse wirkten auf ihn wie Studenten der nahe gelegenen Pädagogischen Hochschule, beweisen kann er dies nicht.

An einem anderen Abend, als Chris Faschon bereits im Bett liegt, schreckt er durch einen lauten Knall auf. Er sieht noch jemanden davonrennen, unten auf der Straße. Auf seinem Balkon findet er einen Steinbrocken – „ein solides Kaliber“. Der sei glücklicherweise am Fensterladen abgeprallt, „die Scheibe wäre mit Sicherheit zu Bruch gegangen“.

Der Stein, der gegen Chris Faschons Fensterladen geworfen wurde.
Der Stein, der gegen Chris Faschons Fensterladen geworfen wurde. | Bild: Urs Brüschweiler

Als vor seinem Haus ein Baustellen-Lichtsignal installiert ist, erlebt Faschon einen weiteren antisemitischen Auswuchs: Ein „offensichtlich arabischstämmiger Mann“ steigt aus dem Auto und schreit Zeter und Mordio in Richtung Faschons Wohnung. „Er brüllte das halbe Quartier zusammen.“

Aufgehört habe der Mann erst, als die wartenden Autos ihn zum Weiterfahren aufforderten. Es sei eine surreale Beobachtung gewesen von seinem Balkon aus, erzählt Chris Faschon. „Es wäre fast schon zum Lachen, wenn es nicht so himmeltraurig und zum Weinen wäre.“

Hohe Dunkelziffer bei Antisemitismus vermutet

Eine Anzeige bei der Polizei hat der frühere Journalist und Autor nicht gemacht. „Die ermitteln erst ab einem Sachschaden von 300 Franken, wurde mir gesagt.“ In der Polizeistatistik werden seine Erlebnisse also nicht einfließen. Jedoch hat er die Vorkommnisse der Meldestelle der Antirassismuskommission mitgeteilt. Denn er findet: „Solche Sachen sollten nicht einfach untergehen.“

Der Antisemitismusbericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) zeigt, dass „die Terroranschläge der Hamas auf Israel in der Schweiz eine Antisemitismuswelle ausgelöst haben, die durch den folgenden Krieg in Gaza weiter angetrieben wurde.“ Von einer „massiven und beispiellosen Steigerung“ ist dort die Rede, von der „Manifestation eines Triggerereignisses“, wie es in diesem Ausmaß in den letzten Jahrzehnten nie beobachtet wurde.

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Dutzende Tätlichkeiten, Beschimpfungen, Schmierereien wurden gemeldet, mehrere hundert Fälle von Antisemitismus im Internet. Mehr als 2000 Vorfälle wurden insgesamt 2023 registriert. Die Zahlen für 2024 liegen noch nicht vor. Kommt hinzu: „Es wird bei weitem nicht alles gemeldet.“

Diese Zunahme an Judenfeindlichkeit spürt Faschon am eigenen Leib. Er trägt seit dem Teenageralter einen Davidstern um den Hals, wurde schon früher mit Ressentiments konfrontiert. Er ist auch auf Facebook aktiv, kommentiert bissig, manchmal auch wütend, zum Nahost-Konflikt und kämpft für die israelische Sache.

Weitere Drohungen per Brief und per E-Mail

Die Rückmeldungen, welche er in elektronischer Form wie auch real erhält, lassen keinen Zweifel, dass der Antisemitismus auf dem Vormarsch ist. „Ich erhielt eine E-Mail, in der stand, man sollte die Öfen schon mal vorheizen. Ich habe auch schon ein Messer per Post erhalten.“

Dass er nun mit seinem richtigen Namen und Foto hin steht und die Zustände anprangert, finden in seinem Umfeld nicht alle gut. „Meine Mutter macht sich Sorgen.“ Aber es könne nicht sein, dass sich alle verstecken, sagt er, der sich früher auch schon in der Kreuzlinger Lokalpolitik bemerkbar gemacht hatte. 2015 kandidierte er als Stadtrat, 2016 für die GLP als Kantonsrat. 2018 hätte er gar in den Großen Rat nachrutschen können, musste das Amt jedoch aus gesundheitlichen Gründen ablehnen.

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„Es ist mein gutes Recht, meine Meinung zu vertreten, ohne Gefahr zu laufen, verletzt zu werden. Ich werde weitermachen, auch im Netz“, betont Faschon. Die Angst schleiche sich aber bei den Juden ein, stellt er fest, etwa mit Blick auf Berlin, wo er Verwandte hat. „Es ist richtig bitter, wie tief das schon wieder drin ist.“ Menschen, wie er, seien auch deshalb in Gefahr, weil sich viel zu viele wegduckten.

Der Autor Urs Brüschweiler ist Reporter der „Thurgauer Zeitung“, in der dieser Beitrag zuerst erschien.