Würde ein gewöhnlicher Erdenbewohner aus der Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts in unsere Gegenwart versetzt, so dürfte es manche Irritationen geben. Es könnte zum Beispiel passieren, dass dieser Besucher aus einer anderen Zeit sich nicht auf einen ganz gewöhnlichen Stuhl setzen möchte. Weil er der Konstruktion nicht traut.

Stühle nämlich haben sich in den vergangenen 100 Jahren so dramatisch verändert wie nur wenig anderes. Das fängt schon damit an, dass sie nicht zwingend über vier Beine verfügen. Über Jahrtausende hinweg hat jedes Kind gelernt: Ein Stuhl, der hat vier Beine. Sind es nur drei, mag es allenfalls noch ein Schemel sein. Bei zweien nicht mal mehr das.

Beine abgeschafft

Für die Abschaffung der Beine ist die Bauhaus-Bewegung verantwortlich – und ein Stahlrohr. Mit diesem entwickelten Designer wie Marcel Breuer und Hans Luckhardt Möbelstücke von schlichter Schönheit. Federnd und leicht, vor allem aber: ganz ohne Beine!

Eine aktuelle Ausstellung im Vitra Design Museum in Weil am Rhein gibt eine Ahnung davon, wie diese Innovation die damaligen Kunden verstörte. Eine zeitgenössische Karikatur etwa zeigt zwei Herren beim Betrachten eines Breuer-Stuhls. „Glauben Sie, dass dieser Stuhl Kunst ist?“ fragt der eine. „Jedenfalls“, so antwortet der andere, „ist es eine Kunst, darauf zu sitzen!“

„Tiefer Eindruck“

Die Branche ließ sich von solchen Vorbehalten nicht beirren. Der Designer und Unternehmer Anton Lorenz beschreibt in einem Brief, welchen „tiefen Eindruck“ eine Ausstellung von federnden Stahlrohrmöbeln 1927 auf ihn gemacht hat: „Ich fühlte und sah, dass hier erstmalig der richtige Weg für die Ausnutzung der im Werkstoff Stahlrohr ruhenden Kräfte beschritten worden ist.“ Werbebroschüren empfahlen dem Publikum, nicht „sentimental dem alten Kram einer vergangenen Zeit nachzuhängen“. Stahlmöbel böten „die beste Leistung des neuzeitlichen Wohnens“.

Tatsächlich zeigten sich schon früh die enormen Vorteile des für das Möbeldesign neu entdeckten Materials Stahl. Hellsichtige Unternehmer wie Lorenz – dem die Vitra-Ausstellung konkret gewidmet ist – erkannten, dass sein Einsatz gleich mehrere Probleme auf einmal lösen könnte.

Stabilität und Leichtigkeit

Ein Stahlrohr versprach Stabilität und Leichtigkeit: So ein Stuhl ließ sich einerseits bequem transportieren, andererseits fiel er nicht schon nach drei Jahren auseinander. Er fügte sich elegant in die zunehmend beengten Wohnungen der städtischen Oberschicht ein, und fiel er mal um, war nicht gleich das Parkett zerschrammt. Nicht zuletzt war das Sitzen auf diesem neuen Stuhl gesund und machte sogar Spaß: Als sogenannter Freischwinger federte der Stuhl jede Bewegung ab, man konnte leicht wippen wie auf einer Schaukel.

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Das Stahlrohr signalisierte eine neue Ära. Platziert in hellen Bauhauswohnungen verband sein Erscheinungsbild die Dynamik der Industrialisierung mit der Leichtigkeit der Goldenen Zwanziger. So ein Stuhl war plötzlich ein Hingucker – allein schon wegen der fehlenden Hinterbeine.

Frei im Raum

In der Weiler Ausstellung ist so etwas Ähnliches wie eine Weiterentwicklung zu sehen. Ein Stuhl von Anton Lorenz, ganz ohne Beine, ja scheinbar komplett frei im Raum schwebend! Die Erklärung für das Phänomen findet sich in einer diagonal unter dem Sitz angebrachten Glasplatte – mehr ein Modegag denn eine wirkliche Innovation.

Andere Modelle wirken schon nachhaltiger. Zum Beispiel der Stuhl ST 14, entworfen 1931 von Hans Luckhardt. Bereits die Freischwinger-Modelle von Marcel Breuer und Mies van der Rohe verblüfften die Kunden durch ihre extreme Reduktion auf ein einziges Stahlrohr. Luckhardt dachte nun weiter und konzipierte den Stuhl aus einer einzigen, geschwungenen Linie heraus.

Unbequem, aber ästhetisch

Der Komfort seines Produkts dürfte sich wegen des geringeren Federungseffekts in Grenzen gehalten haben. In ästhetischer Hinsicht nahm das Möbelstück den bald schon populären Streamline-Stil vorweg. Mit dem Design eines Barwagens nahm Alfred Zeffner den Ball auf: Das Modell GT 74 verknüpfte in eleganter Weise Stahl mit Glas.

Der Freischwinger hat für Jahrzehnte das Verständnis eines gelungenen Möbeldesigns maßgeblich verändert. Aus Stahlrohr waren bald Schreibtische, Schränke und vieles mehr erhältlich. Allein die Produktpalette lässt erahnen, welches Geschäft sich hier machen ließ. Schon bald kam es zu Prozessen um Urheberrechtsverletzungen. Anton Lorenz und Mies van der Rohe vereinbarten deshalb der Einfachheit halber, ihre Schutzrechte zusammenzulegen und die Lizenzeinnahmen zu teilen.

Stahl für Rüstung

Erst der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs setzte diesem einträglichen Geschäft ein Ende. Stahl wurde vorläufig weniger im Wohnbereich eingesetzt: Man brauchte ihn für die Rüstung.

Anton Lorenz – von der Avantgarde zur Industrie: Bis 19. Mai im Vitra Design Museum, Weil am Rhein. Geöffnet täglich 10-18 Uhr. Infos auf http://www.design-museum.de