Doris Burger

Nicht klagen! Sich allzeit verständnisvoll zeigen! Keine eigenen Ansprüche stellen! Diese Leitlinien scheint sich Maria Bernoulli bereits während ihrer Verlobungszeit so fest eingebläut zu haben, dass sie fast daran zugrunde ging. „Du sollst frei sein. Ich verstehe, dass es für Deine künstlerische Entfaltung so sein muss, dass Du da keine Rücksichten nehmen darfst“, schreibt sie im Januar 1904 an Hesse und bietet ihm an, die Verlobung zu lösen.

Mia Hesse, geb. Bernouilli, etwa 1903, entstanden im eigenen Atelier, Basel.
Mia Hesse, geb. Bernouilli, etwa 1903, entstanden im eigenen Atelier, Basel. | Bild: Literaturarchiv Marbach

Eisern hat sie diese Zurückhaltung geübt, ganz egal, wie kapriziös und rücksichtslos sich ihr Gatte aufführte. Immer wenn es mühsam wurde, brach er auf und ließ sie alleine. Egal ob ein Kind krank war, eine Entbindung bevorstand oder der Ofen in seinem Schreibzimmer am Erlenloh explodierte. Das Äußerste war, dass er den Hafner in Radolfzell verständigte, um sofort weiter nach München zu reisen.

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Als Maria Bernoulli den Dichter Hermann Hesse kennenlernt, ist sie selbstständige Fotografin, höchstwahrscheinlich die erste Berufsfotografin der Schweiz. Gemeinsam mit ihrer Schwester Tuccia führt sie ein Fotoatelier in Basel, einen Steinwurf vom Münster entfernt. Die „Fräulein M. und T. Bernoulli“ haben sich der „Kunstphotographie“ verschrieben, die mehr sein möchte als die bisherige Schönfärberei vor Fototapete. Vielmehr wollen die Schwestern die Auftraggeber möglichst natürlich und individuell, „am liebsten zu Hause, zwischen den eigenen vier Wänden“ aufnehmen.

Neu und unerhört

So berichten die Basler Nachrichten am 3. Oktober 1902 und resümieren: „Die Bestrebungen, die Photographie zu reformieren, ist für Basel neu.“ Neu und unerhört war schon die Tatsache, dass zwei Fräulein aus gutem Hause nicht nach einer guten Partie, sondern nach beruflicher Unabhängigkeit strebten. Sie organisierten Ausstellungen, nahmen an Messen teil und unterhielten ihre „Jours“ genannten Künstlertreffs im Atelier.

Undatierte Aufnahme des deutschen Schriftstellers Hermann Hesse (1877-1962).
Undatierte Aufnahme des deutschen Schriftstellers Hermann Hesse (1877-1962). | Bild: dpa

Hermann Hesse arbeitete zu dieser Zeit als Buchhändler in einem Basler Antiquariat, hatte kaum mehr als einige schwärmerische Gedichte veröffentlicht und eben seinen ersten Roman, den „Peter Camenzind“ vollendet. Der eher linkische Dichter aus einem pietistischen Elternhaus in Calw wurde wiederholt und zunehmend vertraulich von Mia eingeladen. Am 4. Juni 1903 schreibt er an seinen Brieffreund Cesco Como: „Seit Kurzem aber halte ich allabendlich einen entzückenden, kleinen, schwarzen, wilden Schatz im Arm“ und am 21. Juni: „Mein Schatz ist kein liebes, dummes Gretchen, sondern mir an Lebenserfahrung, Bildung und Intelligenz mindestens ebenbürdig, älter als ich und in jeder Hinsicht eine selbstständige und tüchtige Persönlichkeit.“

Der Erker im Erdgeschoss gehörte zum geplanten Tageslichtatelier von Mia Hesse.
Der Erker im Erdgeschoss gehörte zum geplanten Tageslichtatelier von Mia Hesse. | Bild: Doris Burger

Vater Friedrich Bernoulli-Gengenbach war entschieden gegen diese Verbindung. Doch Mia überzeugte nach und nach die Geschwister, die wiederum den Vater bearbeiteten. Die standesamtliche Trauung fand am 2. August 1904 in Basel statt, „im Galopp“, wie Hesse schreibt.

Für alles Praktische zuständig

Bereits da hatte sich gezeigt, dass Mia für alles Praktische zuständig war: Sie reiste durch die Lande, um eine passende Wohnung zu finden, was ihr letztlich in Gaienhofen auf der Halbinsel Höri am Bodensee gelang. Das Paar suchte nach den Ideen der Lebensreform eine einfache Unterkunft, fernab der Dekadenz der Städte. Mia fotografierte das Bauernhaus mitten im Ort und schickte die Ansichten ihrem Verlobten, der in Calw weilte. Den Mietvertrag abzuschließen und den Umzug zu planen, blieb ebenfalls ihr überlassen.

Heute ist es nur noch ein Fenster: Früher gab es hier den freien Blick zum See.
Heute ist es nur noch ein Fenster: Früher gab es hier den freien Blick zum See. | Bild: Doris Burger

Ein Muster, das sich durchziehen sollte. Noch aus Gaienhofen schreibt er am 24. Juni 1911 seinem Freund Otto Blümel: „Ende Juli (...) erwartet meine Frau ein Kind, und da weder dies noch meine andren hiesigen Lebensumstände mir viel Freude machen, habe ich einem Bekannten versprochen, ihn im Spätsommer nach Singapore und den malayischen Inseln zu begleiten.“ Vier Wochen nach der Entbindung des dritten Sohnes bricht er zur monatelangen „Indienreise“ mit dem Malerfreund Hans Sturzenegger auf.

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Stets ging es um ihn, nie um sie. Doch langsam schwanden Mias Kraft und Zuversicht, die Fotos der Zeit zeigen eine bedrückte, in sich gekehrte Frau. Was war aus der starken selbstbewussten Frau geworden, die in Basel das Atelier betrieben hatte?

Zur Geisteskranken umgedeutet

Auf Betreiben Hesses, seines ersten Biografen Hugo Ball und seiner dritten Frau Ninon wurde die Geschichte in den folgenden Jahrzehnten weiter umgeschrieben, Mia gar zur Geisteskranken umgedeutet, die letztlich in diversen „Heilanstalten“ weggesperrt werden musste. Tatsächlich war Mia zwischen Oktober 1918 und Februar 1919 in Küsnacht in einer Nervenklinik und konnte die Kinder nicht mehr versorgen. Im August 1919 erwarb sie ein eigenes kleines Haus in Ascona, musste sich aber auch in der Folge noch mehrfach behandeln lassen.

Eva Eberwein bei der Führung: In dieser Küche kochte Mia Hesse frisch für Mann und Kinder – vegetarisch war Trumpf zu Zeiten der ...
Eva Eberwein bei der Führung: In dieser Küche kochte Mia Hesse frisch für Mann und Kinder – vegetarisch war Trumpf zu Zeiten der Lebensreform.

Erst nach der Scheidung 1923 sollte sie sich erholen und zur gewohnten Stärke zurückfinden, ihr Leben wieder selbst bestimmen. Doch von dieser starken Mia war selten die Rede.

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Das sollte sich ab 2005 ändern. Eva Eberwein, heutige Besitzerin des Hermann-Hesse-Hauses in Gaienhofen, begann den Spuren Mias nachzugehen. Über Hesses dritte Frau Ninon gab es 2004 längst ein Buch, der Briefwechsel mit seiner zweiten Frau Ruth erschien 2005 bei Suhrkamp. Doch Mia? Wer war sie? Warum war bislang nichts über sie publiziert worden? Eberwein gründete den Arbeitskreis Mia Hesse, der bis 2011 Quellen sichtete und zusammentrug. Nach zwei Publikationen, einer Ausstellung und zahllosen Führungen auf den Spuren der ersten Hausherrin, wird im August 2019 endlich auch der Name geändert: Aus dem Hermann-Hesse-Haus wird das „Mia-und Hermann-Hesse-Haus Gaienhofen“.

Am 17. August wird der Garten ab 14.30 Uhr für Interessierte geöffnet sein. Das Haus der Familie Hesse in Gaienhofen kann nur im Rahmen von Führungen besucht werden. Am 18. August (11 bis 13 Uhr) gibt es eine szenische Lesung zu Mia Hesse. Kontakt über:http://www.hermann-hesse-haus.de