Seinem Empfinden nach, beschwerte sich kürzlich der Filmproduzent Jim Burke, sei das Rennen um die Oscars in diesem Jahr mit so schmutzigen Mitteln geführt worden wie nie zuvor. Man kann den Mann verstehen: Einerseits gilt sein Film „Green Book – Eine besondere Freundschaft“ als einer der Favoriten auf den wichtigsten Filmpreis der Welt, der in der Nacht auf Montag in Los Angeles verliehen wird.
Andererseits sieht sich seit Wochen kein Oscar-Anwärter derart vielen Vorwürfen ausgesetzt wie die auf Tatsachen basierende Geschichte des schwarzen Musikers Don Shirley und seines weißen Chauffeurs Tony Vallelonga.
Mehrere Skandale überschatten „Greenbook“
Regisseur Peter Farrelly musste sich dafür entschuldigen, an früheren Filmsets häufiger mal ungebeten und zum Scherz seinen Penis entblößt zu haben. Drehbuchautor Nick Vallelonga, Sohn des von Viggo Mortensen gespielten Protagonisten, sah sich mit älteren Aussagen konfrontiert, in denen er sich als anti-muslimischer Trump-Anhänger präsentierte.
Und Mahershala Ali – der aus taktischen Gründen als Nebendarsteller ins Rennen geht und dort als Favorit gilt – bat die Familie des von ihm dargestellten Shirley um Verzeihung, die sich über allerlei Unwahrheiten in „Green Book“ beschwert hatte.

Noch größer ist das Image-Problem von „Bohemian Rhapsody“, der ebenfalls als heißer Anwärter auf die Trophäe als bester Film gilt. Dass sich viele Kritiker an dem Bild von Freddie Mercury störten, das der Film zeichnet, konnte seinem Erfolg an den Kinokassen nichts anhaben.
Doch dass mitten in der Oscar-Saison die bekannten Missbrauchs- und Vergewaltigungsvorwürfe gegen den noch vor Drehende gefeuerten, aber dennoch als Regisseur geführten Bryan Singer lauter erhoben wurden denn je, wird an kaum einem der über die Preise abstimmenden Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts And Sciences vorübergangen sein.
Und dass weder Hauptdarsteller Rami Malek noch Produzent Graham King diesbezüglich wirklich Stellung beziehen, macht die Lage nicht einfacher.

Aber es darf bezweifelt werden, dass der eingangs erwähnte Burke mit seiner Einschätzung Recht hat. Dass im Vorfeld der Oscars versucht wird, den Ruf aussichtsreicher Filme mittels Schmierkampagnen zu ruinieren, hat in Hollywood Tradition. Niemand verstand sich darauf besser als Harvey Weinstein, der es wie kein anderer drauf hatte, für seine Produktionen Nominierungen einzufahren.
Weinstein machte Schmutzkampagnen zur Normalität
2002 war er dafür verantwortlich, dass zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt Vorwürfe gegen „A Beautiful Mind“ laut wurden: Der Film würde es nicht genau nehmen mit der Wahrheit und vor allem den Antisemitismus seiner realen Hauptfigur verschweigen.

Am Ende gewann das Drama den Oscar trotzdem, während die Weinstein-Produktion „In The Bedroom“ leer ausging. Doch die Konkurrenz schlecht zu machen (sei es direkt oder durch lancierte Berichte), um die eigenen Chancen zu erhöhen, ist seither fester Bestandteil jeder Oscar-Saison.
Vorwürfe haben Hand und Fuß
2018 hieß es, der spätere Gewinner „Shape Of Water“ basiere auf einem geklauten Drehbuch, während Schauspieler Gary Oldman – auch er letztlich siegreich – zu früheren antisemitischen Aussagen Stellung beziehen musste.

Bedenkt man, dass in manchen Jahren die schmutzigen Methoden nichts als haltlose Gerüchte waren (Nicole Kidman wurde mal eine Affäre mit ihrem verheirateten Kollegen Jude Law angedichtet), dürften sich die Macher von „Green Book“ und „Bohemian Rhapsody“ eigentlich kaum beschweren. Denn die in diesen Fällen erhobenen Vorwürfe haben Hand und Fuß.
Soziale Medien bieten Vorwürfen größere Bühne
Dass solchen Kampagnen heutzutage allerdings schwer Herr zu werden ist, liegt daran, dass sie nicht mehr nur innerhalb der Branche, sondern öffentlich auf der Social-Media-Bühne geführt werden. Hätte sich „Green Book“-Regisseur Farrelly für seinen Exhibitionismus-Humor früher womöglich nur vor ein paar Insidern rechtfertigen müssen, lässt sich eine solche Sache in Zeiten von #MeToo nicht mehr ohne Weiteres unter den Teppich kehren.
Heute wird alles hinterfragt
Womit man beim vielleicht wichtigsten Punkt wäre, warum das Gefühl vorherrscht, Hollywood im Allgemeinen und die Oscars im Besonderen würden heute mehr denn je von Skandalen heimgesucht. Der Zeitgeist hat sich schlicht geändert: Was früher auf und jenseits der Leinwand als unproblematisch galt, wird heute hinterfragt.
Die Aufmerksamkeit – und damit auch die Aufregung – bei Themen wie Gleichberechtigung, Homophobie oder Rassismus ist größer geworden. Und die Filmindustrie versucht händeringend, mit dieser neuen Realität Schritt zu halten.
Das weiß die Academy selbst am besten. Kaum hatte man dort im Dezember den Komiker Kevin Hart als Moderator der Oscar-Verleihung verkündet, stolperte der über eine ganze Reihe früherer schwulenfeindlicher Witze, für die er sich nicht entschuldigen wollte. Die Show wird deswegen erstmals seit 30 Jahren ohne Gastgeber auskommen.