Ein Oberbürgermeister schimpft über Werbung der Deutschen Bahn. Eine CDU-Chefin reißt einen gewagten Fasnachtswitz. Ein FDP-Vorsitzender kritisiert Schülerproteste gegen den Klimawandel: Aufreger in einer Gesellschaft, der es zu gut geht, um sich über größere Probleme zu empören.

Gereiztheit trotz Wohlstand

Das Phänomen von zunehmender Gereiztheit bei gleichzeitig wachsendem Wohlstand mag verwundern. Historisch einzigartig aber ist es nicht.

Thomas Mann hat Mitte der 20er-Jahre ein Stimmungsbild jener europäischen Gesellschaft gezeichnet, die nach einer Epoche des Friedens und der wirtschaftlichen Prosperität in den Ersten Weltkrieg taumelte. Sein Roman „Der Zauberberg“ zeigt, wie Kurgäste eines Schweizer Sanatoriums vor lauter Dekadenz und Langeweile die Nerven verlieren. Auch sie geraten aus nichtigen Anlässen in Streit, provozieren Handgemenge, verabreden sich sogar zum Duell.

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Zum Schluss bricht der Krieg aus. Und wer den Klassiker als Vorlage für die aktuelle Realität versteht, dem kann mit Blick auf das gegenwärtige Säbelrasseln zwischen USA und Iran angst und bange werden.

Große Gereiztheit

„Die große Gereiztheit“ lautet ein Kapitel, das zuletzt den Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen zu einem gleichnamigen Buch über „unsere kollektive Erregung“ inspiriert hat. In Zürich ist dieser Erregung jetzt auch die Regisseurin Karin Henkel auf der Spur.

Angenehm und morbid

Das Sanatorium erstreckt sich im Schiffbau über drei Stockwerke (Bühne: Thilo Reuter). Oben sonnen sich die Kurgäste in Liegestühlen, unten trifft man sich zum Frühstück. Das Leben oberhalb der Baumgrenze ist so angenehm wie morbid: Den Boden ziert die Röntgenaufnahme eines menschlichen Körpers, von der Rückwand blickt uns der Schädel an. Tod und Verderben wohnen dieser Gesellschaft von Anfang an inne.

Hans Castorp (Lena Schwarz) im Frühstückssaal.
Hans Castorp (Lena Schwarz) im Frühstückssaal. | Bild: Matthias Horn

Hans Castorp, Student aus Hamburg, ist eigentlich nur zu Besuch hier. Das aber gleich zweifach. Denn Carolin Conrad und Lena Schwarz spielen die Rolle doppelt, in identischen Kostümen mit hohem Zylinderhut – warum auch immer.

Ein Sanatorium wie Facebook

Sein Vetter Joachim Ziemßen (Christian Baumbach) macht ihm früh klar, dass – Besuch hin oder her – sein Aufenthalt länger verlaufen dürfte als die geplanten drei Wochen. Schließlich geht es hier um die Gesundheit. Und einen gänzlich gesunden Menschen, ruft der zynische Chefarzt Doktor Behrens (Michael Neuenschwander), den kenne er gar nicht.

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Es ist eine Versammlung von Geschäftemachern und Duckmäusern, die sich hier eingefunden hat. Patienten wie die ordinäre Frau Stöhr (Friederike Wagner) oder Mynheer Peeperkorn (Gottfried Breitfuss) unterwerfen sich willig der Regie des Doktors. Ist er weg, lästert man gern. Für wirklichen Widerstand aber ist der Komfort zu groß. Das Sanatorium, es ist das Facebook des 20. Jahrhunderts: Weggehen ist erlaubt, aber drinbleiben fällt leichter.

Man geht sich auf die Nerven

Und wie im sozialen Netzwerk unserer Tage gehen auch hier die Insassen einander auf die Nerven. Der überzeugte Humanist Lodovico Settembrini (Fritz Fenne), der von einer Vereinigung aller Völker träumt, kann das nationalistische Geschwätz seines Nachbarn Leo Naphta (Milian Zerzawy) nicht mehr hören. Wo der eine von Frieden und Freiheit träumt, spricht der andere von Terror und Gehorsam: liberal gegen autoritär, grün gegen AfD.

Die Patienten des Sanatoriums gehen einander auf die Nerven.
Die Patienten des Sanatoriums gehen einander auf die Nerven. | Bild: Matthias Horn

Manch brisante Äußerung fällt in dieser sich aufheizenden Atmosphäre. Als Doktor Behrens offenlegt, dass ein Sterbender mit 40 Flaschen Sauerstoff versorgt wird, erregt sich Castorps Vetter Joachim: 40 Flaschen, was das kostet! Wie unmoralisch, solche Geldverschwendung bei einem Menschen, der ohnehin dem Tod geweiht ist!

Sauerstoff für gereizte Gemüter.
Sauerstoff für gereizte Gemüter. | Bild: Matthias Horn

Man fühlt sich unweigerlich an Sterbehilfe- und Organspende-Debatten unserer Tage erinnert. Daran, wie auch heute solch schwierige Fragen zunehmend pauschale, im Brustton der Überzeugung vorgetragene Antworten finden. Was richtig ist und was falsch, das weiß in diesem Sanatorium ein jeder ganz genau.

Frappierend aktuell

Der Kontrollverlust über unsere Zivilisation zeigt sich bei Thomas Mann in frappierender Aktualität. Aber bedarf es dafür einer Bühnenadaption?

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Henkels Inszenierung kommt trotz bildstarker Videoeinspielungen, Musikbeiträgen und zirzensischen Elementen kaum über den Roman hinaus. Das mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass die Regisseurin während der Arbeit erkrankte und das Ensemble in einem gemeinsamen Kraftakt die Produktion retten musste. Es liegt aber auch an bemüht wirkenden Regieeinfällen wie einer fahrbaren Tribüne – das Publikum nähert und entfernt sich dem Bühnengeschehen abwechselnd – oder Quer- und Doppelbesetzungen, deren Sinn sich nicht erschließt.

Doktor Behrens (Michael Neuenschwander) fühlt Hans Castorp (Lena Schwarz) auf den Zahn.
Doktor Behrens (Michael Neuenschwander) fühlt Hans Castorp (Lena Schwarz) auf den Zahn. | Bild: Matthias Horn

Carolin Conrad und Lena Schwarz können eine gewisse Distanz zur doppelt besetzten Hauptfigur nicht überwinden. Allzu künstlich wirkt auch der aggressiv zur Schau gestellte Weltekel in Michael Neuenschwanders Darstellung von Doktor Behrens. Am ehesten überzeugen Milian Zerzawy und Fritz Fenne in den Rollen der intellektuellen Duellanten Naphta und Settembrini.

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„Die Wahrheit ist, dass alle den Krieg gewollt und nach ihm verlangt haben“, schrieb Mann in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Es gibt heute Momente, da scheint diese dubiose Sehnsucht wieder auf.

Weitere Vorstellungen von „Die große Gereiztheit“: heute sowie am 21., 26., 27., 29. und 31. Mai im Schiffbau. Weitere Informationen unter: http://www.schauspielhaus.ch