Die größten Feinde der Linken sind die Linken. Kleinste Abweichungen von der Ideallinie genügen, schon wird der Gesinnungsgenosse zum Neonazi: weil er Grenzkontrollen gut findet und Gendersternchen albern, weil er Fleisch isst statt Tofu oder auch bloß, weil er im Stehen pinkelt.
Der linke Selbsthass aus Purismus ist mehr erheiternd als bedrohlich, solange unsere demokratische Grundordnung nicht ernsthaft in Gefahr gerät. Stehen aber Rechtspopulisten kurz davor, politische Mehrheiten zu gewinnen, so wird aus dem linksliberalen Gezänk eine bedenkliche Angelegenheit: Merkt eigentlich noch jemand, wo die wahren Nazis sitzen?
Das Problem ist nicht neu, wie jetzt ein bislang kaum beachtetes, dabei geradezu geniales und schockierend aktuelles Volksstück aus den 1930er-Jahren zeigt. „Italienische Nacht“ heißt es, geschrieben hat es Ödön von Horváth, dem damit das Kunststück gelang, sich durch Kritik an den Linken zum Feind der Rechten zu machen. Am Stuttgarter Schauspielhaus hat jetzt Regisseur Calixto Bieito das Werk in Szene gesetzt.
In der Bierhalle des Wirts Josef Lehninger (Klaus Rodewald) planen die Sozialdemokraten – Horváth nennt sie „Republikaner“ – ihre „italienische Nacht“: ein politischer Abend süddeutscher Prägung, mit Reden, Tanz, Gesang und viel Alkohol.
Stimmung am Biertisch
Beim Kartenspiel bringt sich der linke Stadtrat Alfons Ammetsberger (Elmar Roloff) mit seinen Genossen am Biertisch schon mal in Stimmung. Getrübt wird diese allenfalls durch die Blasmusik von nebenan: Die Faschisten sind unterwegs.

Doch das Getöse der Rechten ist nicht der einzige Stimmungstöter. Schlimmer sind die moralischen Verfehlungen im eigenen Stall! Karl (Peer Oscar Musinowski) zum Beispiel möchte ein Mädchen einladen, das ganz und gar unpolitisch ist. Unmöglich! Findet sein linker Mitstreiter Martin (David Müller).
Im Dienst der guten Sache
Denn wer ein wahrer Linker ist, der verliebt sich auch in eine politische, linke Frau. Martins Freundin Anna (Paula Skorpua) ist im Dienste der guten Sache mit Faschisten unterwegs. Aushorchen in geheimer Mission. Das wiederum entsetzt Karl. „Der schickt dich doch auf den politischen Strich!“, ruft er.

Derweil fängt sich der Stadtrat für sein frisch erworbenes Grundstück eine Rüge ein. „Ein feiner Marxist!“, ruft jemand. „Martin, was hast du da gesagt?“, fährt Ammetsberger den vermeintlich Schuldigen an. Er habe das gar nichts gesagt, antwortet Martin: „Aber ich könnt‘s gesagt haben.“
Der Stadtrat darauf, spitzfindig: „Und wie hättest du das gemeint, wenn du das gesagt hättest?“ Ja, genau so verlaufen die linken Moralfindungsdiskussionen unserer Zeit.
Jeder ist sein eigener Faschist
In seiner sittlichen Überheblichkeit ist hier jeder sein eigener kleiner Faschist. Am deutlichsten zeigt sich das bei Stadtrat Ammetsberger, der sich als philanthropischer Beschützer der Gemeinde aufspielt, während er die verschüchtert herumsitzende Ehefrau Adele (Christiane Roßbach) in einer so herablassenden Art herumkommandiert, dass man ihr gerne die Scheidungsunterlagen reichen möchte.
Und als dann tatsächlich die Faschisten in der Halle stehen, um den Linken eine Abreibung zu verpassen, ziehen all die Maulhelden plötzlich den Schwanz ein. Da setzt sich der Stadtrat brav an den Tisch, um sich vom SA-Mann ein Schreiben diktieren zu lassen: „Ich, der rote Stadtrat, erkläre, dass ich ein gewöhnlicher Schweinehund bin.“ Ein Schweinehund?
Das Hausmütterchen redet Tacheles
„Sie!“, ruft da plötzlich die gedemütigte Ehefrau Adele: „Das ist kein Schweinehund! Das ist mein Mann!“ Und dann führt das vermeintlich unbedarfte, gedemütigte Hausmütterchen den sauberen Genossen mal vor, wie man mit den Herren Faschisten zu sprechen hat: „Arbeiten‘s mal was Anständiges, statt arme Menschen in ihren Gartenunterhaltungen zu stören, Sie gewöhnlicher Schweinehund, Sie!“

Bieito inszeniert das alles ganz nah am Text, spitzt allenfalls manche Verlogenheit noch mehr zu (etwa wenn Karl bei seinem Moralgefasel mal eben Anna ans Bein packt). Damit stellt er die geradezu atemberaubende Aktualität dieses fast 90 Jahre alten Stücks in schönster Klarheit aus.
Die Hauptdarsteller überzeugen
Elmar Roloff gibt in herrlich konsequenter Selbstgefälligkeit das Musterbeispiel eines Politikers, der sich als väterlicher Beschützer geriert und doch als Erster umfällt, wenn‘s ernst wird. Christiane Roßbach lässt im überraschend mutigen Auftritt Adeles eine innere Logik aufscheinen: Wer immer nur gedemütigt wird, hat am Ende auch am wenigsten zu verlieren. Und David Müller überzeugt in der Rolle des Martin als jugendlicher Hitzkopf.
Als die Nazis vertrieben sind, klopft sich der eben noch so feige Moralapostel-Politiker stolz auf die Brust. Da sehe man es mal wieder: Solange er das Sagen habe, könne die Republik ruhig schlafen. Na dann, stöhnt Martin und greift sich an den Kopf: „Gute Nacht!“
Weitere Vorstellungen von „Italienische Nacht“ am Schauspiel Stuttgart gibt es am 29. September 2019 sowie am 2., 3. und 21. Oktober. Zusätzliche Informationen dazu finden Sie hier.