Heute kennt jeder Vincent van Gogh: als Sonnenblumen-Maler, als mutmaßlicher Selbstverstümmler eines Ohrs, als Selbstmörder. Doch ein internationaler Star wurde der Maler erst nach seinem Tod. Zu Lebzeiten verkaufte er nur wenig, wenn auch mehr als ein einziges Bild, was bis heute behauptet wird. Schätzungsweise waren es 20 Werke, van Gogh tauschte aber auch Bilder mit Kollegen oder Bilder gegen Farben.
So einsam war er folglich nicht, er hatte regen Kontakt zu Paul Gauguin, Camille Pissarro und Paul Signac. Kurz nach seinem Freitod starb sein Bruder Theo, der aber seine Frau beschworen hatte, sich um Vincent van Goghs Werk zu kümmern. Das gelang ihr gut in den Niederlanden, der Heimat der van Goghs – und in Deutschland, dank des Berliner Galeristen Paul Cassirer.
Mythos des rauschhaften Malers
Von 1901 an setzte in Deutschland ein beispielloser Van-Gogh-Boom ein, auch dank Julius Meier-Graefe. Der lebte ab 1896 in Paris und verkehrte im Kreis der Künstler, die van Gogh noch kannten. Der Kunsthistoriker dichtete das Erzählte teils um und erfand so den Mythos des rauschhaften Malers: „Es war schauerlich zuzusehen; es war ein Exzess ungeheuerlicher Art, bei dem die Farbe wie Blut herumspritzte.“
Der Mythos entfaltete rasch seine Wirkung. Die Deutschen liebten damals und lieben noch heute die tragischen Helden, die Außenseiter der Gesellschaft. „Van Gogh war eine gebrochene Figur, er wirkte authentisch und ist für seine Überzeugungen gestorben. Damit kann sich jeder identifizieren“, meint Kurator Felix Krämer, der die Idee zur Schau „Making van Gogh. Geschichte einer deutschen Liebe“ im Frankfurter Städel Museum hatte.
Vor über 110 Jahren hatte der Boom noch andere Gründe. Damals wurde das gesellschaftliche und kulturelle Leben unter Kaiser Wilhelm II. als lähmend empfunden. Der Kaiser als oberster Kunstjuror respektierte nur Historienbilder, mythologische Szenen oder biedere Naturbilder. Da kam ein ungestüm malender Künstler gerade richtig.
Zudem gab es in Deutschland nach 1900 viele Industrielle, die sich Kunst leisten konnten. Besonders Frauen waren von van Gogh fasziniert, aber auch jüdische Bildungsbürger erwarben seine Werke – sein Schicksal zog sie in den Bann. Schließlich begehrten auch Museen gegen die wilhelminische Politik auf und kauften van Goghs Bilder.
So wurden zwischen 1901 und 1914 allein in Deutschland rund 120 Einzelausstellungen über van Gogh gezeigt – mit dem Ergebnis, dass in hiesigen Museen und Privatsammlungen von ihm bald 120 Bilder und 36 Zeichnungen hingen, so viele wie in keinem anderen Land. In Frankreich, wo van Gogh seine letzten vier Lebensjahre verbracht hat, gab es vor 1914 nur ein Dutzend Werke. In anderen Ländern war es ähnlich: In England gab es drei Bilder, in Österreich und Russland je acht, in der Schweiz zwölf und in den USA nur zwei Bilder.
Weshalb das so war, erzählt die Frankfurter Ausstellung. Die Schau, die als Sensation der Saison gilt, zeigt anschaulich, wie van Gogh in Deutschland zum Star wurde und wie Galeristen, Sammler und Museen den posthumen Ruhm mit begründeten. Sie erklärt auch, weshalb sich heute nur noch wenige Werke in deutschen Sammlungen befinden. Durch die Inflation in den 20ern mussten Sammler ihre Werke verkaufen, den Rest warfen die Nazis raus, da van Gogh als „entartet“ galt.
Der Vater der Moderne
Erst später entdeckten andere Länder den Maler – nun war sein Siegeszug nicht mehr aufzuhalten. Heute gilt er als Vater der Moderne. „Ohne van Gogh wäre die deutsche Kunst des 20. Jahrhunderts völlig anders verlaufen“, so Felix Krämer. In der Schau geht es auch um van Goghs Einfluss auf Künstler, illustriert an 50 Bildern von ihm und 70 Bildern von Kirchner, Beckmann und Co. Die sahen einen anderen van Gogh als Sammler und Museumsleute.
Natürlich reizte die Künstler auch das kühne Farbenspiel, das die Malweise über das Motiv stellte. Aber für sie war van Goghs Wille zur Kunst wichtig, sie sahen in ihm einen Apostel, dem sie nacheiferten – und saßen damit Meier-Graefes Mythos auf. Das Zerrbild vom armen Eigenbrötler und wahnsinnigen Maler hält sich bis heute – aber das sind Legenden, die falsch sind, bis auf die psychischen Probleme. Und es stimmt, dass van Gogh spät zur Kunst fand, erst 1880. Er schuf dann aber 800 Bilder und 1100 Zeichnungen in nur zehn Jahren.
Van Gogh brachte sich alles selbst bei
Also doch ein Schaffensrausch? Nein, van Gogh ging sehr strukturiert vor. Wenn er auf Motivsuche war, hatte er seinen „Perspektivrahmen“ dabei, erzählt Elena Schroll. Im Rahmen hing ein Netz von Drähten, um etwa eine Landschaft in Felder zu unterteilen. Das erleichterte das Übertragen auf die Leinwand. Den Abdruck des Rahmens sieht man bei einigen Bildern in Frankfurt, denn als Autodidakt musste sich van Gogh vieles selbst beibringen oder durch Ausprobieren erlernen.
Die Ausstellung „Making van Gogh. Geschichte einer deutschen Liebe“ ist bis 16. Februar 2020 im Städel Museum Frankfurt am Main zu sehen. Geöffnet ist Dienstag, Mittwoch und am Wochenende von 10 bis 19 Uhr, Donnerstag und Freitag von 10 bis 21 Uhr. Weitere Informationen finden Sie hier.