Diese Ausstellung ist eine Zumutung – aber eine, die Spaß macht! Als „Tausendsassa einer Kunst des Absurden und Ungestümen“ beschreibt Museumsleiter und Kurator Christoph Bauer den Zeichner und Maler Jürgen Palmtag, dem das Kunstmuseum Singen in Kooperation mit dem Kunstmuseum Albstadt eine große Ausstellung widmet.

„Panorama produktiver Abschweifungen“ lautet der treffende Titel dieser äußerst facettenreichen, ja geradezu überbordenden Werkschau, die den Betrachter auf eine abenteuerliche Reise durch die Bildmedien und Kunstgattungen zwischen Zeichnung, Malerei, Fotografie, Plastik, Text, Collage, Sound, Video und Installation schickt.

In Singen ist Jürgen Palmtag kein Unbekannter. Wiederholt hat das Museum Arbeiten des Künstlers in Sammlungs- und Gruppenausstellungen vorgestellt. Mit Werken aus den letzten 20 Jahren bietet sich nun eine erste Retrospektive des 1951 in VS-Schwenningen geborenen und heute in Mélisey in Frankreich lebenden Multitalents, das neben seiner bildkünstlerischen Arbeit auch als Musiker, Performer und Kurator unterwegs ist. Im zeitgenössischen Kunstgeschehen zählt Palmtag längst zu den bedeutenden Vertretern einer unorthodoxen, konzeptuell angelegten Zeichenkunst und Malerei.

Beim Gang durch die hervorragend präsentierte Ausstellung sieht sich der Besucher mit einem Kaleidoskop der Motive und Themen sowie einem ebenso irritierenden wie faszinierendes Panoptikum der Techniken und Materialien konfrontiert: Bild, Text und Ton sind ohne jede Rücksicht auf Gattungs- und Genregrenzen untrennbar ineinander verwoben und stürmen auf alle Sinne des Betrachters ein.

Rätselhafte Bildwelt im großen Format: „Natuf Rulford“, 2020.
Rätselhafte Bildwelt im großen Format: „Natuf Rulford“, 2020. | Bild: Andreas Gabelmann

Monumentale Gemälde auf Karton und Papier, kleinformatige Zeichnungen, Serien von Fotografien und installative Plastiken vermengen sich mit ausufernden Bildinschriften, assoziationsreichen Textfragmenten, Collagen, Graffiti- und Comic-Elementen, Videoprojektionen (in Kooperation mit der Künstlerin Doris Schmid), Klang- und Geräuschkulissen, Musik, Noise, zu einem spektakulär wuchernden Gesamtbild, das experimentell und spielerisch die Schnittstellen von vermeintlich hoher und niederer Kunst, E und U, hinterfragt und die Erwartungen des Publikums unerschrocken unterwandert.

Alles sehen, alles zeigen: Geradezu hemmungslos und hochgradig experimentierfreudig kombiniert und verzahnt Palmtag grafische, malerische und fotografische Elemente zu dickichtartigen Bildkompositionen, in denen sich Gegenständliches und Abstraktes, Alltagsbeobachtungen und Absonderlichkeiten, Ernstes und Wunderliches zu zeichenhafter Prägnanz steigern.

Steinbruch der Möglichkeiten

Dabei erweist sich die Zeichnung, von Palmtag als „Steinbruch der Möglichkeiten“ beschrieben, stets als Ausgangspunkt für seine form -und farbintensiven Malerei. Figürliches und Landschaftliches scheinen schemenhaft auf, in den kraftvollen Zeichnungen verflüchtigen sich szenische Bilderzählungen in atmosphärischen Räumlichkeiten. Auch schreckt Palmtag nicht vor dem Kopierer als Arbeitsmittel zurück, mit dem er seine Motive wieder und wieder mixt und re-mixt, neu arrangiert und verfremdet, und als Drucke in wandbeherrschende Bildcollagen übersetzt.

Staunend, mal skeptisch, mal amüsiert, treiben wir durch Palmtags weitgespanntes Bilduniversum, das uns mit seiner wilden, chaotisch anmutenden Überfülle der Eindrücke und Wirkungen dazu anregt, Wege durch das labyrinthartige Geflecht des Dargestellten und Geschauten zu finden, das zugleich auch als groteskes Spiegelbild unserer vollgepackten Welt der Worte und Bilder, Konflikte und Widersprüche, gelesen werden kann.

Abenteuerliche Strukturen im Hochformat: „Bratanc!“, 2020.
Abenteuerliche Strukturen im Hochformat: „Bratanc!“, 2020. | Bild: Andreas Gabelmann

Spontane Improvisation und planvolles Konzept verschränken sich in den lebhaft-expressiven Bildschöpfungen zu „Erzählungen, die nach allen Seiten offen sind“ und zu „Geschichten, die der Betrachter weiterdenken kann“, wie Palmtag betont. Die rätselhaften, mitunter eher lautmalerisch angelegten Bildtitel wie etwa „bratanc“ versteht er als „schwebendes Paralleluniversum“, in dem „die Gedanken abschweifen sollen“. Wenn Palmtag seine Werke auch als „Kernbohrungen durch die Disziplinen“ beschreibt, dann fördern diese Versuchsanordnungen ein geradezu uferloses Spektrum der Formen, Erzählweisen, äußeren Entdeckungen und inneren Abgründe zutage.

Die Ausstellung fordert vom Betrachter eine offene, unvoreingenommene Sicht auf die Dinge. „Tatsächlich braucht es eine gewisse spielerische Disposition, um mit dem In- und Durcheinander der Formen, Verweise, Wortfetzen und Botschaften umgehen zu können, die uns in nicht auflösbaren Einzelbildern und undurchdringlichen Ensembles begegnen“, gibt Bauer dem Besucher mit auf den Weg. Und so präsentiert Palmtag ein extremes, ebenso lustvolles wie provokantes Gesamtkunstwerk, das uns hinein reisst in Abseitiges, Sperriges, Ausgedachtes und Aufgeschnapptes, uns auch ratlos in eine Bilder- und Textflut hinstellt, deren rauschhafter Wirkung wir uns aber kaum entziehen können.

Wesentlich bei Jürgen Palmtags kritischem wie staunendem Blick auf die Welt ist der ironisch-humorvolle Akzent, der bei aller Schrägheit des Dargestellten immer mitschwingt. Jene Ironie, die dem Künstler die Freiheit gibt, sich von den Zwängen der Gesellschaft und des Kunstbetriebs nicht unterkriegen zu lassen, ermöglicht uns als Betrachter zugleich eine Einfühlung wie auch Distanz zu den Vorgängen und Zuständen in der Welt – gleichermaßen Zumutung wie Genuss!

Jürgen Palmtag. Panorama produktiver Abschweifungen: Bis 20. November im Kunstmuseum Singen. Öffnungszeiten: Di.-Fr. 14-18 Uhr, Sa.-So. 11-17 Uhr. Weitere Informationen: http://www.kunstmuseum-singen.de