Selbst Nicht-Katholiken zeigen sich immer wieder fasziniert von der katholischen Messe: all diese Üppigkeit, die Mystik, der Weihrauch. Gleichzeitig geht es verdammt grausam zu. Immerhin steht eine veritable Folter im Mittelpunkt des Geschehens, mit blutenden Wunden, Dornenkrone und aufgestochener Seite, die durch die Rede von der Erlösung aller legitimiert wird. Und das Folteropfer ruft auch noch dazu auf, sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken.
Eine Triggerwarnung vor einem Gottesdienst gibt es trotzdem nicht, wie es im Programmheft zur Opernperformance „Sancta“ trocken heißt. Die gibt es nun aber vor dem Opernbesuch in Stuttgart, der erst ab 18 Jahren zugelassen ist: „Diese Aufführung zeigt explizite sexuelle Handlungen sowie Darstellungen und Beschreibungen von (sexueller) Gewalt. Zudem sind echtes Blut sowie Kunstblut, Piercingvorgänge und das Zufügen einer Wunde zu sehen.“ Oha, da scheint es ja zur Sache zu gehen.
Unterdrückte Sexualität
Tatsächlich gibt es im Katholizismus neben Mystik und Erlösung durch Gewalt ja noch ein drittes Thema, das gerade deswegen so präsent ist, weil es so hartnäckig ausgeblendet wird: Sexualität. Das wissen wir nicht erst seit der großen Missbrauchsstudie. Bereits Paul Hindemiths Einakter „Sancta Susanna“ auf ein Libretto von August Stramm (1920) fasst den Ausbruch unterdrückter Sexualität einer Nonne in eine sich orgiastisch entladende Musik.
Es geht hier um eine junge Ordensschwester, deren Sinne nachts in der Klosterkapelle durch den hereinströmenden Duft des Flieders, die Geräusche eines Liebespaars und die Schreckenserzählung über eine Nonne, die einst nackt das Altarkreuz bestiegen haben soll, so in Erregung geraten, dass sie sich selbst die Kleider vom Leib und dem Jesus am Kruzifix den Lendenschurz abreißt. Die Bestrafung, die ihr droht: bei lebendigem Leib eingemauert zu werden.
Befreiung statt Bestrafung
Hier setzt die Performance von Florentina Holzinger an. Hindemiths 25-minütiger Einakter steht zu Beginn des fast dreistündigen Abends – mit Caroline Melzer als Susanna und Andrea Baker als Klementia (musikalische Leitung: Marit Strindlund). Doch auf die Erregung folgt statt Bestrafung nun Befreiung – sowohl die vom Katholizismus als auch die Befreiung weiblicher Sexualität. Holzingers Blick auf Kirche und Sexualität ist dabei ein feministischer.
Dass sie und ihre weiblichen respektive weiblich gelesenen Performerinnen dabei nackt sind, nackt spielen, nackt singen, nackt klettern, nackt kopfüber hängen, an körperliche Grenzen gehen, mag dabei zunächst irritieren – allerdings nur so lange man öffentlich präsentierte Nacktheit als Mittel der Pornografie betrachtet.
Die schließt Holzinger nicht mal aus, erweitert das Deutungsspektum allerdings enorm. Und nachdem sich die „expliziten sexuellen Handlungen“ aus der Vorab-Warnung vor allem als Fantasien der Nonne Susanna herausgestellt haben, wirkt die Nacktheit auf der Bühne irgendwann wie ein ganz normaler Ausdruck der Kostümbildnerin – als Evaskostüm eben. Womit wir ja wieder bei der Kirche wären.
Vom Kyrie bis zur Entlassung
Am Katholizismus arbeitet sich Holzinger hier intensiv ab. Darin ist sie ganz Österreicherin. Der Abend folgt dabei der Form einer Messe, vom Kyrie über die Eucharistie bis zur Entlassung, unter anderem sinnfällig gemacht durch Auszüge aus Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe, Charles Gounods „Messe solennelle“ und Sergej Rachmaninows „Virgil“.
Die Sängerinnen des Stuttgarter Opernchors dürfen dabei den ganzen Abend über in ihren Nonnen-Kostümen bleiben. Dazwischen wird es laut und bisweilen recht unheilig – Punk, Noise, Pop und Sakral-Pop kontrastieren die klassischen Nummern.
Der Bilderreichtum ist enorm und enorm abwechslungsreich. Holzinger als lebender Klöppel einer Kirchenglocke läutet die Messe ein und mag daran erinnern, dass die Kirche ohne die Willfährig- und Leidensfähigkeit der Frau wohl gar nicht funktionieren würde. Doch Holzinger geht über Kirchenkritik weit hinaus, sie belässt es nicht beim weiblichen Opfermythos. Sie zerstört, baut aber auch wieder auf.
Michelangelos berühmtes Gemälde von der Erschaffung Adams zerbröselt, eine kleinwüchsige Päpstin verkündet den Neubeginn, einem Mann aus dem Publikum wird geräuschhaft eine Rippe entnommen, um daraus Eva zu formen.
Jesus bleibt gut gelaunt
Ja, es darf auch unterhaltsam sein. Nonnen auf Rollschuhen sorgen für Heiterkeit ebenso wie der relaxte Aussteiger-Jesus (Annina Machaz), der Wasserpfeife raucht, sein Lamm auf dem Rücken trägt und immer wieder ins Schweizerdeutsche fällt. Seine gute Laune verliert er auch dann nicht, wenn er an der Kirchenpforte abgewiesen wird.
Und auch Wunder, von denen der Katholizismus ja auch einige zu bieten hat, fehlen nicht. Eine Artistin schluckt ein Kreuz wie ein Schwert und eine Zauberin sorgt für eine wunderbare Vermehrung der Weinflaschen.
Eine echte Wunde
Und was ist nun mit dem echten Blut und der Wunde? Die gibt es auch. Als es Richtung Eucharistie geht, wird einer der Performerinnen unter der Brust ein kleines Stück Haut entnommen – auf den Bildschirmen rechts und links der Bühne sieht man, wie es blutet. Eine andere Performerin greift wie der ungläubige Thomas in die Wunde. Sie ist echt. Später wird das Stückchen Haut gebraten, gewürzt und am Tisch beim Abendmahl verzehrt.
Dennoch: von einer Blutorgie ist das sehr weit entfernt. Holzinger ist kein weiblicher Hermann Nitsch, ihre Perfomance kein Orgien-Mysterien-Theater. Längst ist sie einen Schritt weiter, lässt der Kirche auch ihre positiven Seiten. Und das ist vor allem die Botschaft von der Liebe: „Love never fails“. Am Schluss erzählt jede der Performerinnen, welcher Traum sich für sie hier erfüllt hat. Das hat sogar etwas Anrührendes. Alle singen „Don‘t dream it, be it!“ aus der Rocky Horror Picture Show. Das Publikum steht auf, singt mit. Manche ziehen sich sogar aus. Nein, Scherz. Aber alle gehen hin in Frieden.
Weitere Vorstellungen: 26. und 27. Oktober, 1., 2. und 3. November. Infos und Tickets: http://www.staatsoper-stuttgart.de