Den ersten sinnlichen, haptischen Eindruck, den Menschen in unserer Kultur mit politischem Leben verbinden ist der Gang ins Rathaus. Das Gebäude, wo man eine Geburts- oder Sterbeurkunde, gar den Personalausweis abholt, wo man ein polizeiliches Führungszeugnis beantragt oder das Aufgebot bestellt. Hier trifft man städtische Angestellte, in Büros, in Fluren, auch Menschen in gelben Jacken, die die Müllabfuhr erledigen oder Kabel verlegen. Je nach Größe der Kommune begegnet einem gelegentlich die Bürgermeisterin oder der Bürgermeister.

Obwohl die meisten Menschen hier in Städten leben, zieht es laut einer ZDF-Umfrage 44 Prozent aufs Land. In Stadt und Land entscheidet die Einwohnerzahl darüber, wie nahe den Bürgern Politik und Bürgermeister, Gemeinderäte, Erklärungen oder Beschlüsse kommen.

Die frühen Erfahrungen bestimmen, ob Menschen sich später als politisch verstehen, gar Politik machen wollen, Freude an Politik entwickeln oder der Politik überdrüssig sind. Es bedarf keiner großen, soziologischen Erkenntnis, dass auch die Frage des Erfolgs von eigenen Interessen in der Politik, ein Parameter für künftiges Engagement ist.

Christoph Nix, 66, ist künstlerischer Leiter der Tiroler Volksschauspiele und war von 2006 bis 2020 Intendant des Konstanzer ...
Christoph Nix, 66, ist künstlerischer Leiter der Tiroler Volksschauspiele und war von 2006 bis 2020 Intendant des Konstanzer Stadttheaters. Er arbeitet außerdem als Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Professor für Strafrecht. | Bild: Felix Kästle

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben hohe Erwartungen in die kommunale Demokratie gesetzt und bestimmt, dass der Gemeinde die Selbstverwaltung garantiert (Art. 28 Abs. 2) und diese Selbstverwaltung den Grundsätzen eines republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates (Art. 28 Abs. 1) entsprechen soll.

Aber was sind das für Grundsätze und gelten sie im Alltag der kommunalen Demokratie, machen sie Demokratie zu einem lebhaften Ereignis oder ist Kommunalpolitik heruntergebrochen zu einem langweiligen Geblubber müder Gemeinderäte, die chancenlos sind oder zu Kunglern werden, um noch etwas zu erreichen? Welche Grundsätze halten Demokratie wach? Plebiszite? Bürgerbeteiligungen? Partizipative Strukturen?

Verve ist Bürgermeistern fremd

Gehen wir zurück an die Anfänge der Demokratie, gehen wir nach Amerika, aufs Land, in das Herrenhaus von Thomas Jefferson in Virginia. Jefferson, der dritte Präsident Amerikas, war es, der am Morgen der demokratischen Revolution sich keine Illusionen darüber machte, wie rasch auch in Demokratien Korruption sich einstellt, wenn private Interessen sich den Öffentlichen bemächtigen. Übermacht kann nach seiner Auffassung nur verhindert werden, wenn es eine demokratische Balance der Institutionen geben würde. Jefferson wollte den demokratischen Geist wachhalten.

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Aber welcher Bürgermeister in Baden kennt Thomas Jefferson und seine Demokratietheorie? Verve ist ihnen fremd, mit der die Demokratie verteidigt und gelebt werden könnte. Jefferson betonte die Ebene der Townships für das demokratische Leben auf dem Lande, in seinen Briefen an John Tyler vom 26. Mai 1810 sprach er sogar von Elementarrepubliken, in denen demokratische Räte wirkten, die stets abwählbar sein müssten. Jefferson hob hervor, wenn es keine Teilung der Gewalten im Staat gebe, würde die ganze Sache mit der Demokratie schief gehen. Geht sie auch?

In der Kommunalverfassung von Baden-Württemberg (und Bayern) ist das Kernstück demokratischer Organisation aufgehoben, geradezu vernichtet. Bürgermeister werden auf acht Jahre gewählt, sind nicht abwählbar (BVerfGE 7, 155 ff.). Dieses Zeitintervall verstößt gegen demokratische Kulturen und Prinzipien, es entspricht zwei ganzen Amtszeiten eines amerikanischen Präsidenten. Ein Zyklus außerhalb der Kontrolle jeder Legislaturperiode von Parlamenten.

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Die Bürgermeister repräsentieren die Exekutive, sie leiten die Verwaltung, sie sind die Repräsentanten, aber nicht nur mit der Erledigung der Angelegenheiten der laufenden Verwaltung betraut, sondern auch Mitglied des Gemeinderates, sie sind ihre Präsidenten, sie sitzen den anderen vor. Diese Machtfülle löst die Grenzen von Exekutive und Legislative auf, befördert gerade in vielen kleinen Kommunen Leute an die Macht, die ihr nicht gewachsen sind. Sie sprengen die Idee von der Gewaltenteilung, wie sie von Charles Montesquieu im Geist der Gesetze formuliert wurde und Eingang fand in alle demokratischen Verfassungen, Institutionen und Verfahren.

Die Gewaltenteilung hat einen Putsch Donald Trumps verhindert, die alte Idee aus dem 17. Jahrhundert. Dessen ungeachtet bereiten die Bürgermeister die Beschlüsse der Gemeindevertretung vor, vollziehen diese und als Vorsitzende haben sie auch eine Stimme. Sie sind Zünglein an der Waage, wenn in Gemeinden Pattsituationen entstehen. Exekutor und Parlamentarier, Präsident und Repräsentant üben in einer Person die Macht aus, über alle Reglements, Diskussion und des Diskurses, bestimmen was auf die Tagesordnung kommt und wählen sich in Pattsituationen auch noch ihre zweiten oder dritten Bürgermeister aus.

Der Skandal: Es interessiert keinen

Seit der Schulzeit lehren Lehrer uns und unseren Kindern, dass Demokratie mit Gewaltenteilung verbunden sei, seit 1949 schreiben Lehrbücher, lehren Staatsrechtslehrer, dass Gewaltenteilung in Deutschland den Staat bestimme. Es ist Fiktion, zumindest im Süden, die demokratische Kultur nimmt dadurch Schaden, der Citoyen ist eingeschlafen. In Sindelfingen zum Beispiel betrug die kommunale Wahlbeteiligung ganze 29 Prozent. Auf dem Weltkulturerbe Insel Reichenau gingen 33 Prozent zur Urne. Es fehlen Menschen, die im Ehrenamt Gemeinderäte werden wollen.

Aber damit nicht genug, die herrschende Meinung sieht den Gemeinderat in Baden-Württemberg nicht als Repräsentant, sondern als Verwaltungsorgan. Das ist ein Trick, die Sache läuft schief, würde Jefferson sagen. Der Gemeinderat wird gewählt, kann kommunale Gesetze erlassen. Kein Repräsentant? Wer dann? Die normierte Funktion von Bürgermeistern in der süddeutschen Ratsverfassung ist demokratiefeindlich, dabei könnte ein Landesgesetz das ändern, Urbanität schaffen, Demokratie herstellen. Aber der eigentliche Skandal: Es interessiert keinen.

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Die basisgrüne Regierungspartei hat eigene Bürgermeister. Der CDU, als sie noch stark war, war das schon immer Recht, die SPD hat sich selbst aufgehoben und Bürgerrechtler warten auf Plebiszite, die aber niemals die Teilung der Gewalt kompensieren können: Im Theater brennt ein Licht, dort könnte man das Stück Demokratie von Ferdinand Schirach spielen, und später abstimmen, ob man Gemeinderäte in Baden-Württemberg ganz abschaffen sollte.