Eines Tages stellt sich heraus, dass die Professorin und „Person of Colour“, Saraswati, in Wahrheit weiß ist. Und stünden die klassischen Werte der Wissenschaft im Universitätsbetrieb auf sicherem Fundament, wäre die Geschichte hier schon zu Ende.

Für wissenschaftliche Evidenz sind Identitätsfragen nämlich zunächst unerheblich. Die Gesetzmäßigkeiten der Quantenphysik etwa interessieren sich herzlich wenig für Geschlecht und Abstammung ihrer Entdecker, sonst hätten Marie Curie und Albert Einstein kaum den Nobelpreis erhalten. Wenn uns also eine Professorin über ihre Hautfarbe anschwindelt: Was tut‘s zur Sache, solange ihre Thesen stimmen?

Und doch trifft Mithu Sanyal mit dem Ausgangsszenario ihres ersten Romans „Identitti“ (Hanser Verlag) mitten ins Herz unserer Debattenkultur. Möglich ist das, weil die Idee eines voraussetzungsfreien Diskurses keineswegs mehr selbstverständlich ist.

Mithu Sanyal hat als Kulturwissenschaftlerin zu Popkultur, Postkolonialismus und Feminismus geforscht. „Identitti“ ist ihr ...
Mithu Sanyal hat als Kulturwissenschaftlerin zu Popkultur, Postkolonialismus und Feminismus geforscht. „Identitti“ ist ihr erster Roman. | Bild: Guido Schiefer

In den Geisteswissenschaften konnte die Identitätsfrage zum wesentlichen Faktor für den Erkenntnisprozess aufsteigen: Nicht allein was gesagt wird ist entscheidend, sondern auch wer es sagt! Das Muster hat sich längst auf den öffentlichen Raum ausgeweitet. Es ist der Grund dafür, dass sich Debatten über Rassismus, Sexismus oder kulturelle Aneignung so oft im Kreis drehen.

Nichts für Sprachästheten

Die Keimzelle dieser Entwicklung findet sich in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Dort rückt man den Ungerechtigkeiten des Lebens mithilfe eines hoch komplizierten Formelsystems aus Sternchen, Unterstrichen und Buchstabencodes zu Leibe, weshalb Sprachästheten diesen Ort nur noch höchst ungern aufsuchen. Und tatsächlich wird auch dem Leser von „Identitti“ abverlangt, Personen beim lässigen Aussprechen des Wortes „jede*r“ zu imaginieren. Nein, nach literarischen Kriterien darf man dieses Buch gewiss nicht beurteilen.

Jedoch steht das Versprechen im Raum, Sanyal wolle mit ihrem Roman „nichts und niemanden schonen“, vielmehr einen „entkrampfenden“ Blick auf das Themenfeld der Identitätspolitik werfen. Sogar von „Lachen“ und „Selbstironie“ ist auf dem Buchdeckel die Rede, damit wagt man heutzutage gleich gar nicht mehr zu rechnen. Die Hoffnung besteht also, dass sich etwas lernen lässt.

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Nivedita Anand studiert an der Universität Düsseldorf „Intercultural Studies und Postkoloniale Theorie“ und bloggt nebenbei über Identitätspolitik (auch wenn sie die Reduktion auf dieses Schlagwort gar nicht mag). Ihr großes Vorbild ist Saraswati, jene Professorin, die in den Talkshows und auf den Podien dieser Welt mit geschliffener Rhetorik alte weiße Männer gleich doppelt so alt und weiß aussehen lässt. Ihr zweiter Fixstern wohnt (jedenfalls vorerst) im Innern: Kali, die vielarmige Göttin des Todes, der Zerstörung und Erneuerung. Nivedita spricht mit ihr nicht wegen, sondern trotz ihrer indischen Wurzeln.

„Du bist nicht echt“

Denn mit diesen Wurzeln ist es so eine Sache, wenn der Vater indisch ist, die Mutter polnisch und das Leben manchmal sehr deutsch. Da gibt es diese Kindheitserfahrungen von Hänseleien wegen brauner Haut und schwarzem Haar. Eine früh ins Bewusstsein gepflanzte Ahnung, nicht dazuzugehören. Mehr noch: nicht einmal klar abgegrenzt zu sein, vielmehr als sogenannte „mixed race“ zwischen alle Kategorien zu fallen. Der Satz „Du bist nicht echt“ schleicht sich in Niveditas Bewusstsein ein.

Es sind oft nur beiläufige Bemerkungen, die diesen Satz festigen. Der Taxifahrer zum Beispiel, der ihre Mischung so „originell“ findet: als hätten sich die Eltern aus bloßer Freude am Experiment zur Zeugung verabredet. Oder der Partygast, der die Unterhaltung mal lieber auf Englisch versucht, man weiß ja nie bei solch exotischen Erscheinungen.

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Die Professorin Saraswati muss vor diesem Hintergrund wie eine Erlöserfigur erscheinen. Scheinbar starre Rassenkategorien entlarvt sie als künstliche Konstrukte, weiße Studenten wirft sie kurzerhand aus der Vorlesung, damit sie mal selbst erleben, wie das so ist, Diskriminierung zu erfahren. Und dann stellt sich heraus: Ebendiese Saraswati ist gar nicht Saraswati. Sondern Sarah Vera Thielmann aus Karlsruhe, käseweiße Tochter ur- und biodeutscher Eltern. Einem Chamäleon gleich hat sie einfach ihre äußere Erscheinung den Umständen angepasst. Ist doch egal, Hauptsache ihre Thesen stimmen?

Nicht, wenn eine Wissenschaft längst mehr ist als nur Wissenschaft. Nicht, wenn sich auch Spuren von Politik, Aktivismus, ja Religiosität in sie eingeschrieben haben.

Mithu Sanyal: „Identitti“, Roman: Hanser Verlag, München 2021; 432 Seiten, 22 Euro.
Mithu Sanyal: „Identitti“, Roman: Hanser Verlag, München 2021; 432 Seiten, 22 Euro. | Bild: Cover

Der von Saraswatis Outing ausgelöste Shitstorm enthält all die Widersprüche und Eitelkeiten, von denen die sogenannten Debatten unserer Tage geprägt sind. In der Empörung finden rechts und links immer einen gemeinsamen Nenner. „Gutmenschin fordert, dass wir uns alle braun anmalen, um Migranten nicht zu verärgern“, twittert die AfD. Derweil schreibt Aktivistin Sibel Schick: „Almans wünschen sich hart, rassistisch unterdrückt zu werden. Aber geht halt nicht, deshalb malen sie sich die Haut einfach mal paar Nuancen dunkler.“

Nicht genug Blackfacing?

Parallel zum Internet-Sturm führt die Meisterin mit ihrer Schülerin einen analogen Schlagabtausch. Nivedita argumentiere rassistisch, wenn für sie die Hautfarbe einen Unterschied ausmache, giftet die enttarnte Sarah Vera Thielemann alias Saraswati. Nivedita verteidigt sich: Der Unterschied sei doch nicht die Hautfarbe, sondern die Lüge. „Du bist du wegen alldem, was du mir beigebracht hast.“ Aber an dem Beigebrachten habe sich doch gar nichts verändert, erwidert Thielemann: „Willst du sagen, dass du gute Wissenschaft nicht angenommen hättest, wenn die Person, die sie unterrichtete, weiß gewesen wäre?“ Gute Frage.

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Das ganze Arsenal an sich ewig wiederholenden, ins Absurde gesteigerten Argumentationsmustern breitet sich hier aus: von Hautfarbe als Merkmal von Herrschaftsverhältnissen, die es zwar Schwarzen nicht verbiete, sich als Weiße auszugeben, während umgekehrt Weiße zwar ihre Privilegien abgeben sollen, keinesfalls aber ihre Hautfarbe, obwohl genau diese wiederum eigentlich das Problem darstellt... „Was denn jetzt?“, ruft Thielemann: „Werde ich des Blackfacings beschuldigt, oder dass ich mich nicht black-genug-gefacet habe?“ Der Leser weiß es da längst selbst nicht mehr.

Präzise und schonungslos

Bei allen sprachlichen und stilistischen Schwierigkeiten erscheint doch bemerkenswert, wie präzise und tatsächlich schonungslos Sanyal die argumentativen Bruchstellen auf allen Seiten aufspürt. Verräterisch ist, wie eine diffuse, aus Twitter-Statements (zum Teil eigens von realen Personen des öffentlichen Lebens beigesteuert) konstruierte Internet-Stimmungslage zusehends zum Hauptkriterium für die Beurteilung des Falls heranreift.

Als in diesen moralisch aufgeheizten Wahnsinn der Terroranschlag von Hanau hineinplatzt, wird schlagartig klar: Die Tragik dieser Geschichte besteht nicht im tiefen Fall einer einzelnen Wissenschaftlerin. Sondern in der Erkenntnis, dass so viel erregte Wortakrobatik so wenig zu den realen Herausforderungen passt. Nur wie sich das ändern lässt, darauf weiß auch dieser Roman keine Antwort.