Burkhard Strassmann

Ich klemme in einem vollgestopften Regionalexpress. Draußen ziehen Gestrüppe, Hinterhöfe, Abstellgleise und Bundesstraßen vorüber. Ich hole das Tablet aus dem Rucksack und starte einen Film, „Mad Max“, bescheuerter Stoff, bitte nicht weitererzählen. Plötzlich lehne ich mich zurück und schalte das Gerät ab.

Was ich hier gerade mache, ist Zeitvertreib. Aber muss ich das wirklich: meine Zeit vertreiben? Wo doch Zeit eigentlich etwas Tolles und Knappes ist. Eine Frage, die mich regelmäßig beschäftigt, wenn ich ein schlechtes Buch lese, mich von einem Film berieseln lasse, ein Computerspiel spiele: Das Leben ist endlich, und ich schlage Zeit tot?

Eine Woche als Gast im Kloster

Es gibt einen Grund dafür, dass ich gerade viel über Zeit und Langeweile nachdenke: Ich bin unterwegs zu einem Kloster. Im Kloster Maria Laach in der Eifel habe ich mich für eine Woche angemeldet. Als Gast. Zimmer plus Essen – alles Weitere wird man sehen. Zum Beispiel, ob ich so viel Zeit überhaupt aushalte – allein mit mir.

Manche nennen es Retreat, also Rückzug, das ist gerade im Trend. Gern im Paket mit Yoga, Meditation, Mandala. Ich dagegen suche Leere. Eine lange Woche lang. Fast unendlich viel Zeit. Voll die lange Weile. Bedeutet das auch Langeweile?

Bloß keine Langeweile zugeben!

Eigentlich bin ich eher der Typ: „Langeweile – kenn‘ ich nicht!“ Wenn ich mal nicht weiß, was ich tun soll, warte ich, bis mir was einfällt. Und sollte ich mich jemals gelangweilt haben, würde ich es nicht zugeben. Ich gehöre doch nicht zu denen, die mit ihrer Zeit nichts anzufangen wissen!

Als ich in Andernach am Rhein den Zug verlasse und in den Bus umsteige, habe ich tatsächlich eine Stunde lang über Zeitvertreib nachgedacht und mich auch ohne Videogucken nicht gelangweilt. Auch keine Zeit vertrieben. Na bitte! Die Busfahrt ist kurvig. Am Kloster steige ich aus.

Das Kloster Maria Laach ist 930 Jahre alt. Es liegt am Laacher See in der Eifel.
Das Kloster Maria Laach ist 930 Jahre alt. Es liegt am Laacher See in der Eifel. | Bild: Thomas Frey/dpa

Die sechs Türme des fast 1000 Jahre alten Münsters begrüßen mich, später ein Benediktinermönch in dunkelbrauner Kutte. Gastpater Viktor zeigt mir mein Zimmer für die nächste Woche, keine Zelle, aber auch keine Suite. Bett, Schreibtisch, Schrank. Bibel. Die Glocken des Münsters sind bloß einen Steinwurf entfernt – mein Leben hier wird vielleicht leer sein. Doch nicht ohne Struktur.

Endlos lang nur sitzen, liegen, gehen. Bloß das Nötigste an Nahrung, kein Gewese um gehobene Cuisine und elaboriertes Trinken. Allein sein, nicht reden, keine Witze, keine filigranen Anspielungen, keine Wortwechsel, keine Missverständnisse. Keine E-Mail, keine SMS. Nur Glockenläuten und Mönchsgesänge und Vogelstimmen. Mit Glück Erinnerungen an eine Zeit, als Kirche noch guttat. Mit noch mehr Glück ein bisschen Seelsorge. Meine Seele braucht so was gerade.

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Ich trete vor die Tür. Auf dem Platz vor dem Münster ein paar Touristen. Eine Taube. Ich setze mich auf einen Stein. Erstes Gefühl: Hier bin ich sicher. Niemand will mir was. Kein Anspruch sitzt mir im Nacken. Nicht mal Verantwortungsgefühl. Bloß existieren, das erscheint in greifbarer Nähe.

Auf meinem Schreibtisch liegt ein Zettel mit rätselhaften Begriffen und Uhrzeiten: Morgenhore, Tageshore, Komplet. Ich merke bald, dass der Rhythmus des Mönchslebens mein Leben organisiert. Um 5.30 Uhr läuten die Glocken dringlich einladend direkt neben meinen Ohren. Der Klostertag beginnt mit dem Morgenlob.

Leben als Teil einer sehr alten Geschichte

Keiner der anderen Gäste steht heute so früh auf. In der großen Basilika bin ich allein mit den Mönchen. Die beten und singen, meist auf Latein. Ich verstehe nichts und liebe gerade das. Töne und Sprache schweben im Kirchenraum, während die Sonne Lichtfinger durch die Altarfenster streckt. Ich muss keine Inhalte kritisch überprüfen, sondern bin Teil einer sehr alten Geschichte. Einer Geschichte der Frommen und Gläubigen.

Später Frühstück im Gästetrakt. Selbst leise Gespräche mit anderen Gästen empfinde ich bald als überflüssiges Gequatsche. Das Mittagessen dürfen wir gemeinsam mit den Mönchen einnehmen, in deren Speisesaal, dem Refektorium. Ein gutes Dutzend Mönche sind es, darunter auch sehr alte, gebrechliche Brüder. Ein neues Gefühl: Hier bin ich richtig. Unter diesen alten Männern.

Die Klosterkirche Maria Laach: Hier kommt man innerlich zur Ruhe.
Die Klosterkirche Maria Laach: Hier kommt man innerlich zur Ruhe. | Bild: Thomas Frey/dpa

Ein Gebet. Eine rasche, schweigend verzehrte Mahlzeit. Währenddessen liest ein Bruder vor, zu meiner Überraschung aus Wolfgang Schäubles „Erinnerungen“. Gerade geht es um Kohl und die schwarzen Kassen. Ein Kloster ist nicht das halbe Jenseits.

Ich erfinde für mich ein Klosterleben. Suche einen Platz zwischen Bäumen. Eine Parkbank im abgesperrten Klostergarten. Einen Wackerstein, der mit der Geschichte der Vulkaneifel zu tun hat. Denke nach. Lasse es denken. Notiere Gedanken und Gedankenloses. Tue nichts. Döse ich? Ist Dösen erlaubt? Tut, wer döst, immer nichts? Und wo nichts ist, ist da Langeweile?

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Ich habe gelesen, dass es Langeweile in einer guten und einer schlechten Version gibt. Die schlechte: Man steckt unfreiwillig in einem System, einer Anstalt, ist einem Menschen ausgeliefert, ist eingesperrt oder eingeklemmt. Am Bahnsteig. Im Wartezimmer. Oder im Gefängnis. In einem blöden Job. Oder im Dickicht von Covid-Regeln.

Selbst Mütter von Neugeborenen erleben nicht selten diesen Typ Langeweile. Sie werden – vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben – regelrecht tyrannisiert von einem anderen Wesen, nämlich ihrem Winzling. Mit unerklärlichen Schreiattacken und unkalkulierbaren Schlafrhythmen.

Solche Beispiele sammelt die Langeweile-Forschung (Die gibt es wirklich!). Die gute Langeweile wird gerade von jeder anständigen Zeitung gelobt, fast könnte man von einem Hype sprechen. Wie sollen wir auf das leidige Kindergenöle „Mir ist so langweilig!“ reagieren? „Prima“, sollen wir fröhlich ausrufen, „aus der Langweile werden die großartigsten Ideen geboren!“

Der perfekte Langweiler

Ich gestehe, ich bin auch so einer. Ein Langeweile-Lober. Einer der einsamsten Plätze im Kloster ist der Mönchsfriedhof im nichtöffentlichen Teil an der südwestlichen Klostermauer. Weil sich hier die Zeit bis ins Unermessliche dehnt, ist dies der ideale Ort, über Zeit und deren Vertreibung nachzudenken.

Zum Beispiel über Reisen im ICE von Berlin nach Düsseldorf, wenn beides passieren kann: das Zusammenziehen von Lebenszeit durch Videogucken. Und das Strecken und Ausdehnen der Zeit, während man aus dem Fenster blickt, Leute beobachtet und belauscht, döst. Ob es Qualitätsdösen gibt? Und was unterschiede dieses von Meditation? Und ob es Volkshochschulkurse „Der perfekte Langweiler“ geben sollte?

Das hat der Aufenthalt im Kloster gebracht

Am Ende, nach einer Woche, zähle ich zusammen. Kirchenbesuche: so viele wie in den vergangenen zehn Jahren insgesamt nicht. Morgenhoren: zweimal. Kaffee und Kuchen auswärts: sechsmal. Seelsorgerisches Gespräch mit Pater Viktor einschließlich Freisprechung von den Sünden: eins. Orgelkonzerte: zwei. Privatgespräche mit anderen Menschen: zwei. Bibelstudium: drei Stunden. Grübeln über den eigenen Lebenslauf, über Schuld, Reue und Mut: ständig. Offenen Herzens dösen, Ideen haben, diese notieren: ständig. Traueranflug: einer. Depression: null.

Und Langeweile? Null. Wenn mein Aufenthalt im Kloster unter dem Motto gestanden hätte „Von einem, der auszog, das Langweilen zu lernen“ – ich hätte eine Pleite erlebt. Stattdessen waren meine Tage in Maria Laach die besten seit Langem.