Finanzminister Christian Lindner fordert eine offene Debatte über die mögliche Weiternutzung der Atomkraft. Um Missverständnissen vorzubeugen: Er möchte ja nur die Debatte. Sollte dabei herauskommen, Atomkraft ist Teufelszeug, wir sollten davon ein für allemal die Finger lassen – alles bestens! Gar. Kein. Problem. Hauptsache, wir haben debattiert. Und zwar ganz nach Hölderlin: „Komm! Ins Offene, Freund!“
Wer sich im politischen Geschäft umhört, gerät über die drastisch gestiegene Beliebtheit dieses offenen Diskurses ins Staunen. Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manne Lucha zum Beispiel spricht sich für eine Debatte um die sogenannte Widerspruchslösung bei Organspenden aus. BDI-Präsident Siegfried Russwurm möchte ganz entspannt über einen späteren Renteneintritt debattieren. Und Grünen-Politikerin Renate Künast streitet für eine Debatte um Lindners Lieblingsprojekt, den Tankrabatt. Keine Sorge, nur debattieren!
Wer Debatten fordert statt Taten, präsentiert sich als wahrer Demokrat. Gibt er doch zu erkennen, dass er jeder Meinung ein ganzes Arsenal an gleichermaßen zulässigen Gegenmeinungen zugesteht, in jeder These auch die Antithese mitdenkt. Der exakte Gegenentwurf zu den Putins dieser Welt.
Nie fordert jemand eine „geschlossene Debatte“
Einfach eine Verlängerung der Laufzeiten für unsere Atomkraftwerke fordern, das kann jeder ideologisch verbohrte Trottel. Ein reflektierender Geist dagegen kennt weit mehr als nur seine eigene Überzeugung. Bevor er sich zu einem Problem äußert, durchschreitet er dessen gesamten hermeneutischen Zirkel, wägt sorgsam jedes Argument, hinterfragt kritisch die Ausgangshypothese. Auf diese Weise für die Komplexität des Themas sensibilisiert, ringt er sich schließlich dazu durch, der Öffentlichkeit das Führen einer Debatte zu empfehlen.
Dabei geschieht es so gut wie nie, dass ihm ein geschlossener Gesprächsstil in den Sinn kommt. Nein, der offene muss es sein, besser noch: der „ergebnisoffene“.
Das Werben um diesen Diskurs ist vor allem bei Minderheitenpositionen und Tabuthemen von Vorteil. Als Faustregel gilt, je heikler das Anliegen, desto mehr Debatte. Falsch: Deutschland braucht unbedingt eigene Atomwaffen! Richtig: Es ist an der Zeit für eine ergebnisoffene Debatte um die Zukunft unserer nuklearen Teilhabe.
Wichtig ist zu erkennen, für welche Seite ein Thema wirklich heikel ist. Sonst geht das mit der Offenheit nach hinten los. Beim Chef eine „offene Debatte“ zur Höhe des Gehalts vorschlagen: Wer weiß, auf welche Ideen ihn das bringt. An der Türschwelle zum Kinderzimmer einen freien Diskurs über den angerichteten Saustall anregen: Da kann man man lange auf Ordnung warten. Und wer am Elternsprechtag glaubt, die ungerechte Benotung seines Bengels in aller Ergebnisoffenheit ausdiskutieren zu müssen – ganz dünnes Eis.
Im Zweifelsfall währt ehrlich noch am längsten. Wer nämlich eine ehrliche statt offene Debatte fordert, sagt damit nicht nur, dass alles bisher Gesagte gelogen war. Er reißt damit auch die Definitionshoheit über Dichtung und Wahrheit an sich. „Wir sollten mal ein ehrliches Gespräch über deinen Saustall führen“: Jede Wette, das wird im Kinderzimmer schon ganz richtig verstanden.